General Paulus verkroch sich im Kaufhauskeller

  23 Januar 2018    Gelesen: 4419
General Paulus verkroch sich im Kaufhauskeller

Nachdem Hitler die Kapitulation seiner Stalingrad-Armee verboten hatte, erklärte ihr Oberbefehlshaber seinen hungernden Soldaten, „standzuhalten und zu siegen“. Er selbst verschwand in einen Bunker.

Das Ende vom Ende begann an einem Freitagmorgen. Am 22. Januar 1943 durchstießen Verbände der sowjetischen 57. Armee im Südwesten des Kessels von Stalingrad die schwachen deutschen Linien. Binnen der nächsten Stunden überrannten sie die Reste der 297. Infanteriedivision, die sich nicht mehr absetzen konnten.

„Russe im Vorgehen in sechs Kilometer Breite beiderseits Woronopowo“, funkte Generaloberst Friedrich Paulus, der Oberbefehlshaber der deutschen 6. Armee, am Nachmittag an das Oberkommando des Heeres: „Keine Möglichkeit mehr, Lücke zu schließen.“

Ebenso wenig konnte Paulus die Front noch durch Rückzug stabilisieren. Die beiderseits des Durchbruchs liegenden Einheiten, die 3. motorisierte Infanteriedivision im Norden und die 371. Infanteriedivision im Süden, waren ohnehin nur noch ein Schatten ihrer selbst; über Munition verfügten sie auch nicht mehr.

Der Funkspruch klang verzweifelt: „Verpflegung zu Ende. Mehr als 12.000 unversorgte Verwundete im Kessel.“ Dann stellte der Armeeoberbefehlshaber Paulus seiner vorgesetzten Kommandobehörde die entscheidende Frage: „Welche Befehle soll ich den Truppen geben, die keine Munition mehr haben und weiter mit starker Artillerie, Panzern und Infanteriemassen angegriffen werden? Schnellste Entscheidung notwendig, da Auflösung an einzelnen Stellen schon beginnt.“

Der Militärhistoriker Bernd Wegner analysiert in dem Standardwerk „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ diese Mitteilung treffend: „Damit hatte Paulus – indirekt zwar, aber doch unmissverständlich – erstmals die Frage einer Einstellung der Kämpfe aufgeworfen.“

Offenbar als Folge dieses Funkspruchs rief Generalfeldmarschall Erich von Manstein an diesem Freitagnachmittag im Führerhauptquartier Wolfsschanze in Ostpreußen an und ließ sich mit Hitler verbinden. Der anerkanntermaßen beste Stratege der Wehrmacht schlug vor, mit der Roten Armee über eine Kapitulation der 6. Armee zu verhandeln, wenn die Behandlung der Gefangenen entsprechend der Genfer Konvention garantiert werde. Im Gegenzug würde die Luftwaffe für 14 Tage die Versorgung der eingeschlossenen Verbände per Luftbrücke übernehmen.

Unverständlich bleibt, wie Manstein auf die Idee kommen konnte, auf einmal würde die Rote Armee die Standards der Genfer Konvention einhalten (die sie nicht unterschrieben hatte). Immerhin waren 1941/42 bereits deutlich mehr als zwei Millionen Sowjetsoldaten in Gefangenenlagern der Wehrmacht ums Leben gekommen, größtenteils waren sie verhungert.

Aber der Vorschlag wurde ohnehin nicht weiterverfolgt, denn Hitler antwortete dem Feldmarschall bündig: „Eine Kapitulation der 6. Armee ist schon vom Standpunkt der Ehre aus nicht möglich.“ In derselben Besprechung ordnete der Diktator an, den Wiederaufbau der 6. Armee anzugehen. Wiederaufbau – das konnte nur bedeuten, dass er die noch existierenden Reste dieses Großverbandes aufgegeben hatte, der vor einem halben Jahr noch bis zu 250.000 Mann umfasst hatte.

Hitlers Entscheidung erreichte am Abend des 22. Januar 1943 per Funk auch das Hauptquartier der 6. Armee im verbunkerten Keller des Kaufhauses Univermag mitten in Stalingrad. Die Weisung löste, schreibt der Historiker Wegner, „eine im Rückblick rational kaum mehr fassbare Reaktion aus“.

In einem Befehl an die verbliebenen etwa 120.000 Mann unter seinem Kommando nämlich forderte Paulus noch einmal zum „Kampf um jeden Fußbreit Boden“ auf und versprach: „Wenn wir wie eine verschworene Schicksalsgemeinschaft zusammenhalten und jeder den fanatischen Willen hat, sich bis zum Äußersten zu wehren, sich unter keinen Umständen gefangen zu geben, sondern standzuhalten und zu siegen, werden wir es schaffen.“

Friedrich Paulus hatte in der Hölle von Stalingrad offenbar endgültig den Bezug zur Realität verloren. Er war ohnehin mit der Funktion, die er als Stabschef der 6. Armee auf Empfehlung seines Vorgesetzten Walter von Reichenau überraschend erhielt, völlig überfordert. Denn Paulus war der Typus des Schreibtischgenerals, der niemals eine Division oder ein Korps geführt, sondern stets nur Stabsaufgaben erledigt hatte.

Das allerdings machte er gut und erwies sich auch als treuer Anhänger Hitlers. Der bedankte sich mit rasanten Beförderungen: Paulus war in nur vier Jahren vom Generalmajor zum Generaloberst aufgestiegen. Loyalitätsdruck zusammen mit seinem ohnehin eher zaudernden Naturell trugen zum Schicksal der in und um Stalingrad eingekesselten deutschen Soldaten bei.

Am 24. Januar 1943 ließ Paulus seinen Funker an die Heeresgruppe Don durchgeben, man sei an Mitteilungen über die Lage außerhalb des Kessels nicht mehr interessiert. Einen Tag später informierte die 6. Armee offiziell, man habe über dem höchsten Gebäude Stalingrads die Hakenkreuzflagge gehisst.

Am Untergang seiner Armee konnten Paulus’ Befehle und symbolische Handlungenwie die Flagge nichts ändern. Generalmajor Moritz von Drebber zum Beispiel kapitulierte mit seiner 297. Infanteriedivision am 25. Januar 1943 und ging in Gefangenschaft.

Andere Offiziere wählten den Freitod. Der Kommandeur der 371. Infanteriedivision, Generalleutnant Richard Stempel, verübte am 26. Januar zusammen mit einigen Offizieren seines Stabes Selbstmord; der Rest seiner Truppe zeigte weiße Fahnen. Alexander von Hartmann, Kommandeur der 71. Infanteriedivision, verließ am selben Tag seine Deckung und ging auf einem Bahndamm ins feindliche Feuer hinein.

Unter solchen Umständen forderte der Korpskommandeur Walther von Seydlitz-Kurzbach seinen Vorgesetzten Paulus auf, umgehend zu kapitulieren – „Führerbefehl“ hin oder her. Der General der Artillerie war der tatkräftigste unter den noch rund zwei Dutzend deutschen Generälen im Kessel.

Zu Weihnachten 1942 hatte Seydlitz den Oberkommandeur Paulus bereits aufgefordert, den Ausbruch zu Mansteins stecken gebliebenen Entsatztruppen zu wagen. Er wusste, dass es sich um ein Himmelfahrtskommando ohne große Aussichten auf Erfolg handelte, denn er selbst hatte im Frühjahr 1942 das „Unternehmen Brückenschlag“ befehligt, bei dem nur mit viel Glück 100.000 deutsche Soldaten im Kessel von Demjansk befreit werden konnten.

Doch Paulus lehnte Seydlitz’ Vorschlag zu kapitulieren ab, genau wie einen Monat zuvor die Empfehlung auszubrechen. Stattdessen floh er vor seiner Verantwortung – in sein primitives Arbeitszimmer im Kellerbunker des zerschossenen Univermag-Kaufhauses. Faktisch führte von da an sein Stabschef Arthur Schmidt die sterbende Armee.

Quelle : welt.de


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