Für Berlin war es die Qual der Wahl. Es musste sich entscheiden: Entweder die neue russische Gasleitung über der Ostsee aufgeben und die Möglichkeit bekommen, „mit Trump zu reden“, damit dieser auf die Importzölle für Stahl und Aluminium aus Europa verzichtet, oder sich auf einen richtigen Handelskrieg mit Amerika gefasst machen.
Aus der Tatsache, dass die Amerikaner unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit die erwähnten Importzölle doch eingeführt haben, kann wohl geschlossen werden, dass Merkel Härte gezeigt hat (was für die Europäer gar nicht so typisch ist) und die nationalen Interessen Deutschlands verteidigen will.
Man kann angesichts dessen wohl sagen, dass die Europäer einen wichtigen Härtetest bestanden haben, um das Recht zu beanspruchen, einer der Pole in der künftigen multipolaren Welt zu sein. Allerdings ist dieser Kampf noch lange nicht gewonnen – allein desahalb, weil Washington ein neues Sanktionspaket gegen die EU vorbereitet.
Wie die Zeitschrift „Foreign Policy“ unter Berufung auf „drei hochrangige US-Beamte“ berichtete, geht es um Restriktionen gegen die europäischen Unternehmen, die sich am Nord-Stream-2-Projekt beteiligen. „Sie werden sich durch nichts aufhalten lassen, um Nord Stream 2 zu blockieren“, soll einer der Beamten gesagt haben.
Da die US-Regierung ihre Drohungen üblicherweise auch umsetzt und der Handelskrieg gegen die EU de facto schon begonnen hat, muss man sich wohl verschiedene Varianten der weiteren Entwicklung der Situation nach der Verhängung der erwähnten Sanktionen gegen die europäischen Partner des russischen Energiekonzerns Gazprom überlegen.
Vor allem sollte man nicht denken, dass die Sanktionen der Schlusspunkt in der sehr umständlichen Geschichte um die russische Gasleitung sein werden. Im Gegenteil: Damit wird erst ein neues Kapitel beginnen. Auf die Sanktionen gegen die europäische Hüttenindustrie (die Amerikaner nennen sie formell „Maßnahmen zur Verteidigung der nationalen Sicherheit“) hat Brüssel schon nach dem „Spiegelprinzip“ geantwortet und Strafzölle auf Produkte von Dutzenden US-Unternehmen verhängt. Auffallend ist übrigens, dass sogar Kanada, das traditionell der nächste Verbündete und Partner der USA ist, Gegenmaßnahmen ergriffen hat.
Dies könnte ein Beweis dafür sein, dass man in der Welt vor den Amerikanern keine Angst mehr hat. Logisch wäre, zu erwarten, dass Brüssel auch die weiteren Anti-EU-Sanktionen Washingtons ähnlich beantworten wird. Sehr schmerzhaft für die Amerikaner wäre beispielsweise die Einführung von Importzöllen für amerikanisches Flüssiggas, was ein Unterpfand dafür wäre, dass Washington von den Sanktionen gegen Nord Stream 2 nichts gewinnen würde. Mehr noch: Im Unterschied zu den europäischen Ölprojekten im Iran hat nur einer der Nord-Stream-2-Teilnehmer — Royal Dutch Shell — wirklich große Projekte in Übersee und ist damit anfällig im Falle von US-Sanktionen.
Alle anderen Nord-Stream-2-Aktionäre (Uniper, OMV, Engie, Wintershall) konzentrieren sich vor allem auf die Aktivitäten in Europa und haben darüber hinaus beträchtliche Aktiva in Russland. Und das wäre ein weiterer Grund, warum sie sich gegen die US-Sanktionen wehren könnten. Und rein finanziell könnte Gazprom den Bau des zweiten Nord-Stream-Strangs auch allein stemmen. Das einzige Problem wäre dann, dass manche europäische Politiker mit der Situation sehr unzufrieden wären, wenn die US-Sanktionen zur weiteren Stärkung des russischen Energieriesen führen würden, der die Pipeline allein besitzen würde.
Die US-Sanktionen könnten noch einen überraschenden Effekt haben: Da die Amerikaner bei den Handelsverhandlungen Fragen aneinander binden, die miteinander eigentlich nichts zu tun haben (so gibt es beispielsweise keine Verbindung zwischen Nord Stream und den Importzöllen für europäischen Stahl), könnten manche EU-Politiker auf die Idee kommen, auf einen sehr schmerzhaften „Punkt“ für die Amerikaner zu drücken. Nämlich auf die Russland-Sanktionen. Als Gegenmaßnahme gegen die USA hätte die Aufhebung der Russland-Sanktionen einen weiteren Vorteil: Europäische Unternehmen würden dadurch keine Verluste tragen, sondern im Gegenteil: Sie würden auf den sehr lukrativen russischen Markt zurückkehren. Und diese „asymmetrische Antwort“ auf den Druck aus Amerika wurde bereits gegeben.
Der österreichische Vizekanzler, Heinz-Christian Strache, sagte jüngst in einem Interview für die Tageszeitung „Österreich“ auf die Frage, ob die EU angesichts der jüngsten Vorgehens der USA die Russland-Sanktionen nicht überdenken sollte: „Ein Umdenken der EU wäre wünschenswert. Denn die Sanktionen haben vor allem unserer österreichischen Wirtschaft geschadet. Ich habe immer davor gewarnt, Russland in die Arme Chinas zu treiben. Es ist höchste Zeit, diese leidigen Sanktionen zu beenden und die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland zu normalisieren.“
Natürlich hat die Idee zur Rache an den USA durch die Lockerung oder Abschaffung der Russland-Sanktionen vorerst nicht so viele Befürworter im europäischen Establishment. Dieses versteht auch noch nicht ganz, dass es keine Rückkehr zu den „goldenen Zeiten“ der euroatlantischen Partnerschaft geben wird. Nicht alle europäischen Politiker sehen ein, dass alle Versuche, sich in Geduld zu üben und abzuwarten, bis Trump das Weiße Haus verlässt, in Wahrheit Versuche sind, den Kopf in den Sand zu stecken.
Man sollte nicht die kolossale Trägheit der politischen und wirtschaftlichen Verbindungen zwischen den USA und der EU überschätzen – aber man sollte auch nicht ihre Bedeutung überschätzen. Man muss sich die russisch-ukrainischen Beziehungen anschauen, um zu verstehen: Selbst engste Wirtschaftsverbindungen, eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame große Siege bedeuten nichts, wenn eine der Seiten die Beziehungen kappen will. Im Unterschied zur Ukraine, die aus wirtschaftlicher Sicht ohne Russland zum Tode verdammt ist, ist die EU ohne Amerika durchaus lebensfähig. Das einzige, was der Union fehlt, ist im Grunde ein zuverlässiger militärischer Schutz, der aber nicht all zu teuer wäre und den ihr unter Umständen Russland bereitstellen könnte.
Wenn Europa diese bevorstehende „Sanktionsprüfung“ besteht und sein Recht auf Freiheit verteidigt, wird sein politischer und wirtschaftlicher „Drift“ weg von den USA nicht mehr aufzuhalten sein. Und zwar nicht nur aus politischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen. Denn Trump beansprucht europäisches Geld und die Europäer lassen sich das nun einmal nicht gefallen.
sputnik.de
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