Libyen ist die Hölle für Flüchtlinge. Trotzdem sollen Migranten lieber dort bleiben, als nach Italien kommen. Das ist zumindest die Politik Roms. Um sie umzusetzen, nimmt das Land auch den Bruch internationalen Rechts in Kauf.
Eigentlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Italien deutlich gezeigt, was unzulässig und was gefordert ist. 2009 fing die italienische Küstenwache im Mittelmeer eine Gruppe Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea ab. Sie befanden sich in internationalen Gewässern. Statt sie auf die nahe italienische Insel Lampedusa zu bringen, fuhr ein italienisches Schiff sie nach Libyen und übergab sie den Behörden des damaligen Machthabers Muammar al-Gaddafi. 24 der rund 230 Betroffenen reichten Klage beim EGMR ein. Im Fall "Hirsi Jamaa und andere gegen Italien" stellte das Gericht 2012 einen Verstoß gegen die europäische Menschenrechtskonvention fest. Rom war den Richtern zufolge verpflichtet, die Somalier und Eritreer vor möglicher Folter und unmenschlicher Behandlung in Libyen zu schützen, statt sie ihr auszuliefern. Das Land musste deshalb jedem klagenden Somalier und Eritreer 15.000 Euro Schadenersatz zahlen, insgesamt mehr als 300.000 Euro. Menschenrechtsorganisationen feierten diese Entscheidung als wegweisend, als ein klares Bekenntnis zum Prinzip des Non-Refoulment, des Nichtzurückweisungsgebots.
Zu einem beherzten Umlenken hat das Urteil die Regierenden in Rom offenbar aber nicht bewegt. "Ich habe den Eindruck, dass Italiens Refoulement-Verstöße unverhohlener werden", sagt Anna Lübbe. Die Professorin hat sich an der Hochschule Fulda auf deutsches, europäisches und internationales Migrationsrecht spezialisiert. Sie erklärt, dass wieder Schadenersatzzahlungen wie im Fall Hirsi möglich erscheinen. Und die damit einhergehende Schmach für Italien, sich wieder nicht an die eigenen Werte zu halten. Beides, so glaubt es Lübbe, schrecke Rom seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise aber nicht mehr wirklich ab. "Um irgendwelche Feigenblätter wird sich kaum noch bemüht", sagt sie.
Statt Flüchtlinge selbst zurück nach Libyen zu bringen, arbeitet Rom enger mit der libyschen Küstenwache zusammen. Zwar kooperiert auch die EU beim Kampf gegen illegale Migration mit Tripolis, Italien ist allerdings Vorreiter. Das Land hat ein binationales Kooperationsabkommen mit Libyen vereinbart - und bewegt sich damit auf besonders wackligem juristischen Boden.
Das Hirsi-Urteil hat deutlich gemacht: Die Messlatte für die Einhaltung europäischer Werte hängt hoch. Reicht es, die verbotene Nichtzurückweisung von Flüchtlingen einfach einem anderen Staat aufzubürden? Reicht es auch dann noch, wenn es sich bei diesem Staat ausgerechnet um das Land handelt, in dem Folter und Misshandlung drohen?
"Es gibt ein Menschenrecht auf Ausreise"
Rom benimmt sich, als gäbe es diese Vorbehalte nicht. Italien unterstützt die libysche Küstenwache finanziell, durch Ausbildung und Material. Dabei hatte die Agentur der EU für Grundrechte (FRA) den Mitgliedsstaaten einige Jahre nach dem Hirsi-Urteil eigentlich eine Reihe von Leitlinien an die Hand gegeben, um künftige Rechtsbrüche und Schadenersatzzahlungen zu vermeiden. Unter Punkt 3 heißt es darin: "Drittländer sollten nicht ersucht werden, Reisende vor Erreichen der EU-Außengrenze abzufangen, wenn bekannt ist oder bekannt sein müsste, dass den abgefangenen Personen in der Folge Verfolgung droht oder sie tatsächlich Gefahr laufen, einen anderen ernsthaften Schaden zu erleiden." Ein sperriger Satz, aber ein brisanter. In seiner Essenz bedeutet er: Jedwede Kooperation mit Libyen ist zu hinterfragen. Italien ignoriert diese Leitlinien von allen EU-Staaten am rigorosesten.
2017 verlegte Italien Medienberichten zufolge ein Kriegsschiff in den Hafen von Tripolis, um zumindest vorübergehend das Fehlen einer eigenen Seenotrettungsleitstelle (MRCC) Libyens auszugleichen. Auch dadurch könnte es zu neuerlichen Rechtsbrüchen gekommen sein. Die libysche Küstenwache holte Flüchtlinge immer wieder gegen ihren Willen zurück aufs Festland. Gegen ihren Willen, weil die Menschen nach Europa wollen, nicht in ein Land, in dem sie missbraucht, versklavt und vergewaltigt werden. Migrationsrechtsexpertin Lübbe sagt: "Es gibt ein Menschenrecht auf Ausreise."
Auch der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages geht in einem Sachstandsbericht darauf ein: "Das Menschenrecht sei verletzt, sobald ein Boot oder Schiff die Küstengewässer verlassen habe und aus internationalen Gewässern - etwa nach Libyen - zurückgezogen werde". Dabei ist von "Pull Backs" die Rede. Der wissenschaftliche Dienst beschreibt, dass bei solchen Fällen zwischen Ausreisefreiheit der Flüchtlinge und der Pflicht der Libyer zur Seenotrettung abgewogen werden müsse. Dabei muss auch die Frage geklärt werden, ab wann ein Flüchtlingsboot eigentlich in Seenot geraten ist und sich nicht mehr einfach nur auf der Flucht befindet. Schwierige Fragen, die sich eigentlich auch Italien stellen müsste, wenn sie Tripolis zu ihrem Flüchtlingskescher macht. Denn hat das italienische Kriegsschiff im Hafen von Tripolis der libyschen Küstenwache tatsächlich dabei geholfen, Menschen zurück aufs Festland zu zwingen, ist Rom womöglich auch mitverantwortlich für den Bruch des Rechts auf Ausreise. Und vielleicht ist Rom das auch dann, wenn die italienische Seenotrettungsleitstelle in Italien die libysche Küstenwache zu einem solchen Einsatz delegiert.
Seit Ende Juni verfügt Tripolis eigenen Angaben zufolge über ein eigenes MRCC. Seither berichten Besatzungen privater Seenotretter, dass Italien sich nicht mehr dafür verantwortlich fühlt, sie bei ihren Einsätzen zu leiten und zu unterstützen. Angeblich wies das MRCC Italien die Hilfsorganisationen an, sich der libyschen Seenotrettungsleitstelle zu unterwerfen und Flüchtlinge für die Rückfahrt nach Libyen an sie auszuhändigen. Besteht auch darin ein Rechtsbruch? Italien zögert nicht, sondern schafft Fakten.
Weitere Klage ist bereits anhängig
Beispiele, wie Italien im Mittelmeer mit internationalem Recht in Konflikt gerät, gibt es viele. Seit Mai ist am EGMR auch wieder eine explosive Klage anhängig. Sie bezieht sich auf einen tragischen Vorfall im November 2017. Damals ertranken mindestens 20 Migranten im Mittelmeer. Die Tragödie ereignete sich nach Angaben der Überlebenden, weil ein Schiff der libyschen Küstenwache sich in einen Rettungseinsatz der Privaten Hilfsorganisation Sea-Watch einmischte. Einige der Überlebenden reichten Klage ein. Nicht nur, weil sie eigenen Angaben zufolge in Libyen mit Elektroschocks gefoltert wurden. Sie reichten auch Klage gegen Italien ein, weil die libysche Küstenwache bei dem tödlichen Rettungseinsatz auf See ein Schiff einsetzte, das sie von Italien gestellt bekommen hat. Das Urteil in dem Fall steht noch aus. Es dürfte das erste werden, das sich Italiens neuem Pakt mit Libyen widmet.
Anfang der Woche ereignete sich ein weiterer Vorfall, der beim Gericht in Straßburg landen dürfte. Am Montag sammelte das italienische Handelsschiff Asso-Ventotto mehr als 100 Migranten in internationalen Gewässern ein und brachte sie nach Tripolis. Obwohl alle Häfen in Libyen von der EU als "nicht sicher" eingestuft werden. Europäischen Schiffen ist es verboten, Menschen dort abzusetzen. Der Ablauf des Vorfalls ist umstritten. Wen erreichte der Notruf zuerst? Das MRCC Italien oder das MRCC Libyen? Wer ordnete an, die Migranten nach Tripolis zu bringen? Hatten sie Gelegenheit, um Asyl in Italien zu bitten?
Italiens Innenminister Matteo Salvini weist jede Verantwortung von sich. Wohl auch mit Blick auf das Hirsi-Urteil von 2012. Bei Facebook schrieb er kurz nach dem Vorfall, die italienische Küstenwache habe die Aktion "nicht koordiniert und nicht mitgemacht". Ob das dem EGMR reicht? Es gibt Hinweise darauf, dass Rom wusste, was mit der Asso-Ventotto geschah. Wäre Italien nicht verpflichtet, Schiffe, die unter italienischer Flagge fahren, davon abzuhalten, Flüchtlinge nach Libyen zu bringen? Hätte Rom ihnen nicht die Möglichkeit auf einen Asylantrag in Italien geben müssen?
Klagen können nur Staaten und Betroffene
Bevor der EGMR auch diesen Fall klären kann, braucht es einen Kläger. Vor dem Gericht in Straßburg können nur Betroffene oder Staaten Beschwerde einlegen. Die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen, Luise Amtsberg, appelliert deshalb bereits an Berlin. Die Bundesregierung solle sich dafür einsetzen, den Fall zu prüfen - mit Blick auf den Fall Hirsi. Ob es zum Einschreiten der Bundesregierung kommt, ist allerdings fraglich. "Die Staatenbeschwerde beim EGMR findet bisher wenig Anwendung", sagt die Migrationsrechtlerin Lübbe. Aus politischen Gründen wollen viele Länder nicht die Aufpasserfunktion über andere Staaten übernehmen." Außerdem will ja auch Deutschland enger mit Libyen zusammenarbeiten. Die Auslagerung von Grenzschutz und Asylverfahren ins Ausland sind, wenn auch mit mehr Vorbehalten als in Italien, mittlerweile längst auch Berlins und Brüssels Politik.
Andrej Hunko, europapolitischer Sprecher der Linken im Bundestag, spielt deshalb bereits mit dem Gedanken, Druck auf andere Staaten auszuüben, die am EGMR klagen können. "Ich war gerade in Island. Die dortige Regierung wird von einer links-grünen Ministerpräsidentin geführt. Wenn so ein Staat klagen würde, wäre das eine gute Idee", sagt er. "Ich habe noch keine konkreten Schritte in diese Richtung unternommen, aber das wäre interessant."
Wahrscheinlicher als eine Klage eines Staates gegen Italien ist am Ende aber wohl eine Klage der Betroffenen. Die stecken wahrscheinlich irgendwo in Libyen fest - womöglich in einem der berüchtigten Haftanstalten für Migranten. Aber auch in früheren Fällen ist es gelungen, die Menschen wiederzufinden und zu juristischen Schritten zu motivieren. Entweder durch Menschenrechtsorganisationen oder Juristen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen ist in mehreren Lagern auf libyschen Boden aktiv. "Libyen ist kein sicherer Hafen und diese Handlung könnte internationales Recht verletzt haben", hieß es bereits Anfang der Woche von der Organisation. Sie versprach, den Fall zu prüfen.
Wie auch immer die Gerichte am Ende über Italiens Vorgehen entscheiden - wie im Fall Hirsi dürfte es Jahre dauern, bis die Betroffenen auf Entschädigung hoffen können. Zwei der Kläger von damals starben beim erneuten Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, bevor das Urteil fiel.
Quelle: n-tv.de
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