Es wäre das, was in Brüssel auch "politische Atombombe" genannt wird. Doch wie bei echten Atomwaffen gilt auch hier: Ihr Einsatz gilt als so unwahrscheinlich, dass sie selbst als Drohkulisse nur begrenzt taugt.
Die Drohung basiert auf Artikel 7 des EU-Vertrags. Dort heißt es, dass der Europäische Rat "bestimmte Rechte" eines Mitgliedstaats - darunter sein Stimmrecht - aufheben kann, wenn eine "schwerwiegende und anhaltende Verletzung" der EU-Grundwerte vorliegt. Das allerdings müssen die 28 EU-Staats- und Regierungschefs einstimmig entscheiden - was bei einem derart brisanten Thema unwahrscheinlich ist.
Deshalb hat die EU-Kommission im März 2014 den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus vorgeschaltet, "damit man noch etwas anderes hat, bevor man zur ganz großen Keule greift", wie Urs Pötzsch vom Freiburger Centrum für Europäische Politik es ausdrückt. Sollte die Kommission in ihrer nächsten Sitzung am 13. Januar beschließen, den Rechtsstaatsmechanismus im Fall Polen zu aktivieren, käme ein dreistufiges Verfahren in Gang:
In Phase eins kann die Kommission eine "systembedingte Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit" feststellen. Sie würde Polen eine Mahnung schicken und der Regierung Zeit für eine Antwort einräumen.
Sollte Warschau auf stur schalten, würde die Kommission Polen eine öffentliche Empfehlung erteilen, die von ihr angeprangerten Defizite innerhalb einer bestimmten Frist zu beheben.
In Phase drei prüft die Kommission, ob Polen wirklich gehandelt hat. Sollte dieses Follow-Up nicht zufriedenstellend verlaufen, kann die Kommission Maßnahmen nach Artikel 7 des EU-Vertrags einleiten.
Doch damit wäre kein Ende in Sicht. Nun müsste der Europäische Rat ein ebenfalls dreistufiges Verfahren eröffnen:
Die Staats- und Regierungschefs müssten erneut feststellen, dass eine "eindeutige Gefahr" einer Verletzung der Grundrechte in Polen besteht. Schon dafür ist eine Vierfünftel-Mehrheit nötig. Da Polen nicht mitstimmen dürfte, müssten 22 der anderen 27 Staaten dafür sein.
Anschließend hätte Polen erneut Zeit, die Situation zu ändern. Geschieht das nicht, können die EU-Partner eine "schwerwiegende und anhaltende Verletzung" der EU-Grundwerte feststellen. Das aber ist nur einstimmig möglich - die wohl größte Hürde. Sie zu überspringen würde voraussetzen, dass auch Polen nahestehende Regierungen - etwa die des ungarischen Rechtsauslegers Viktor Orbán - dafür sind.
Im dritten Schritt könnte der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, "bestimmte Rechte" Polens aus den EU-Verträgen auszusetzen.
Das Stimmrecht ist dabei das einzige, das im Artikel 7 explizit genannt wird, doch es kommen auch andere Strafen in Frage. Ein EU-Haushaltsexperte hält es etwa für vorstellbar, dass Brüssel bereits zugesagte Strukturfördermittel auf einem Sperrkonto zurückhält.
Für Polen wäre das äußerst schmerzhaft - denn es ist der mit Abstand der größte Nettoempfänger von EU-Geldern. Allein 2013 hat das Land nach Angaben der EU mehr als 16 Milliarden Euro an Zuschüssen erhalten, zugleich aber nur 3,8 Milliarden in den EU-Haushalt eingezahlt. Im EU-Finanzrahmen für 2014 bis 2020 bekommt Polen nach Berechnungen der Beratungsgesellschaft Rödl & Partner sogar die Rekordsumme von fast 73 Milliarden Euro.
Negativbeispiel Ungarn
Die Kommission will sich zum jetzigen Zeitpunkt offiziell nicht zu möglichen Strafen äußern. Der Rechtsstaatsmechanismus sei schließlich genau dazu gedacht, eine Aktivierung von Artikel 7 verhindern, heißt es. Zudem beinhalte schon der Rechtsstaatsmechanismus einen "dramatischen Vorwurf", meint EU-Experte Pötzsch.
Das anschließende Verfahren werde vermutlich Monate, wenn nicht gar Jahre dauern - schon weil Polen die Chance haben müsste, Gesetze wieder zu ändern. "Niemand will eine Eskalation", sagt Pötzsch. "Deshalb wird man großzügige Fristen setzen. Das gibt viel Zeit für eine gütliche Einigung."
Aber eben auch die Möglichkeit, im Extremfall wirklich Artikel 7 des EU-Vertrags zu aktivieren. "Wenn sich der betreffende Staat lange hartnäckig verweigert", sagt Pötzsch, "steigert das den Druck, harte Maßnahmen zu ergreifen".
Ob der neue Mechanismus wirkt, wird sich daran messen lassen, ob Polen eine Entwicklung wie in Ungarn erspart bleibt. Dessen Regierung hatte 2010 ein umstrittenes Mediengesetz beschlossen. Die auch damals aus Brüssel erhobene Drohung mit der "Atombombe" des Stimmrechtsentzugs blieb wirkungslos.
Die Regierung Orbán nahm zwar einige kosmetische Korrekturen vor. Doch Ungarns öffentlich-rechtliche Medien gelten heute als weitgehend gleichgeschaltet.
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