Britische Geheimdienstmitarbeiter sollen ihr Wochenende dafür geopfert haben, Premierministerin May in einer Sondersitzung über eine neue russische Bedrohung zu informieren. „Russland verlegt Truppen und Raketen nach Libyen. Das ist ein Versuch, den Westen in eine neue Falle zu treiben“, schreibt die Zeitung „The Sun“ mit Verweis auf Regierungsquellen.
Moskaus oberstes Ziel sei es, „die größte illegale Migrationsroute nach Europa unter Kontrolle zu nehmen“. Und wenn es Moskau gelinge, die Kontrolle über Libyens Küste zu erlangen, dann… Ja, dann drohe „eine neue Welle von Flüchtlingen, die übers Mittelmeer nach Europa drängen werden“, zitiert „The Sun“ die Quelle.
Sogleich fordern britische Volksvertreter von der Regierung, Maßnahmen zu ergreifen: „Wir brauchen eine koordinierte Antwort der Regierung, denn eine Destabilisierung in dem Land hat unmittelbare Auswirkungen auf die nationale Sicherheit Großbritanniens“, sagte laut „The Sun“ der Abgeordnete Thomas Tugendhat.
„Es ist nämlich so, dass Großbritannien hinsichtlich der Flüchtlingsströme und der Ölversorgung aus Libyen sehr anfällig ist“, heißt es in britischen Regierungskreisen laut dem Blatt.
Derlei Aussagen bieten natürlich einen Anlass, darüber herzuziehen, dass es die britische Regierung selbst war, die den Zerfall Libyens mit herbeigeführt und damit die Flüchtlingsströme in den Westen erst verursacht hat. Aber statt gehässig zu werden, könnte man auch nüchtern fragen, was London davon hat, die Welt mit „Putins Libyen-Plänen“ einzuschüchtern.
Zwei Gründe sind es mindestens, die London dazu treiben, eine neue Bedrohung aus Russland aufzublasen. Erstens muss Großbritannien anlässlich des kommenden Brexits seine überragende Bedeutung für die Europäische Union hervorheben.
Gemeint ist die Bedeutung als geopolitischer Spieler, als militärische Kraft, als Nato-Verbündeter – kurz um: als jemand, der das dumme Europa vor der ständig drohenden Gefahr aus dem Osten schützen würde.
Und zweitens: Es geht um Libyen selbst. Denn das Land ist für alle von größter Bedeutung, die mit riesigen Einsätzen auf dem geopolitischen Schachbrett spielen.
Als einheitlicher Staat existiert Libyen seit sieben Jahren schon nicht mehr. Es ist zerfallen, nachdem der Westen einen Putsch gegen das Staatsoberhaupt Muammar Gaddafi vorbereitet und durchgeführt hat. 42 Jahre lang hatte Gaddafi regiert, bevor er gestürzt wurde. Seither herrscht im zerfallenen Libyen Bürgerkrieg.
Es hat bislang viele Versuche gegeben, Libyen als Staat wieder zu einen, was nicht nur für die Menschen in dem Land, sondern auch ihre arabischen Nachbarn und für die EU sehr wichtig wäre. Weil sich das Land nach dem Sturz der Zentralregierung in eine Transitroute für afrikanische Flüchtlinge verwandelt hat.
Seit Jahren versuchen die Europäer, allen voran die Franzosen und die Italiener, die verfeindeten libyschen Clans zu befrieden – ohne sichtbaren Erfolg. Clans und Warlords beherrschen weiterhin das Land, auch Dschihadisten halten Landesteile unter ihrer Kontrolle, seit sie 2011 in nach Libyen eingedrungen sind.
Die international anerkannte Regierung in Tripolis kontrolliert nicht mal die Hauptstadt. Der einflussreichste Mann im Lande ist der Feldherr Chalifa Haftar. Auf mehr als der Hälfte des Landesgebiets hat er seine Macht inzwischen festigen können.
Gestützt wird Haftar vom benachbarten Ägypten und anderen arabischen Staaten – auch Russland arbeitet mit dem Offizier zusammen. Schließlich unterhält Russland schon seit Gaddafi-Zeiten sehr gute Beziehung zu Libyen.
Dennoch: Von einer militärischen Einmischung Russlands in den libyschen Bürgerkrieg kann überhaupt keine Rede sein. Dabei versuchen seit Jahren sowohl die libyschen Machthaber als auch das an stabilen Verhältnissen in Libyen interessierte Italien, Russland in den Konflikt hineinzuziehen.
Die italienische Regierung hatte nämlich auf Einnahmen aus dem libyschen Ölgeschäft gehofft, stattdessen ist sie seit 2011 mit den Flüchtlingsströmen aus dem nordafrikanischen Land konfrontiert. Es war also auch in Roms Interesse, dass Russland sich einer Friedens- und Ordnungsmission in Libyen anschließt.
Nur: Wäre es wirklich in Russlands Interesse dort für Ordnung zu sorgen, wo die Europäer Chaos gesät haben? Aber die Haltung eines unbeteiligten Beobachters wäre für Moskau auch nicht das Wahre. Und das hat nicht nur mit den russischen Stützpunkten in Tobruk und Bengasi zu tun.
Schließlich ist Russland auch durch konkrete wirtschaftliche Interessen mit Libyen verbunden: Russische Firmen bauten Eisenbahnstrecken und erschlossen Gas- und Ölfelder im nordafrikanischen Land.
Es wäre deshalb dringend notwendig, sich über die künftige Ordnung in Libyen zu einigen, Wahlen in dem Land abzuhalten und dann mit der neuen Regierung zu verhandeln. Die Wahlen des neuen Präsidenten und Parlaments sind für kommenden Dezember angesetzt, könnten aber vereitelt werden.
Jedenfalls konnte sich die Regierung in Tripolis mit dem Machthaber Haftar diesbezüglich noch nicht einigen. Der Versuch des französischen Präsidenten, in dieser Sache zu vermitteln, ist bisher erfolglos geblieben.
Eben deshalb ist die Libyen-Konferenz so wichtig, die in einem Monat in Palermo stattfinden soll. Die italienische Regierung hat den russischen Präsidenten bereits zur Teilnahme eingeladen. Dass eine europäische Regierung die Bedeutung Russland in der Libyen-Regulierung auf diese Weise anerkennt, missfällt natürlich sowohl den Briten als auch den Amerikanern.
Daher kommen auch die Gruselgeschichten über Putins Plan, sich Libyen unter den Nagel zu reißen und die EU mit afrikanischen Flüchtlingen zu fluten. Sehr viel ehrlicher wäre es, würde der Westen anerkennen, dass er selbst alles dafür getan hat, das libysche Volk zu vergraulen. Jetzt setzen die libyschen Bürger eher auf Moskau.
sputniknews
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