Das Licht in den Fenstern ist der Wegweiser für diese Geschichte. Es leitet zu den letzten Wachgebliebenen ihrer Viertel. Was lässt sie nicht schlafen?
2:27 Uhr, Eimsbüttel
Eine ruhige Seitenstraße zwischen den U-Bahnhöfen Osterstraße und Lutterothstraße. Eine Radfahrerin scheppert über das Kopfsteinpflaster und zieht ihren Schatten von Laterne zu Laterne. Einzelne Weihnachtssterne und Schwibbögen leuchten hinter Gardinen, sonst ist es dunkel. Nur in einem Wohnzimmerfenster im Erdgeschoss brennt noch Licht, der Fernseher läuft.
Eine Frau öffnet ihre Wohnungstür, läuft zur Haustür, öffnet die Haustür. Sie trägt eine schwarze Hose, einen schwarzer Pullover, schwarze Mütze, schwarze Socken.
"Ich nenn das präsenile Bettflucht", sagt die Frau, "mit dem Alter braucht man weniger Schlaf." Sie geht zurück in ihre Wohnung, stellt den Fernseher im Wohnzimmer aus, geht in die Küche und zündet sich eine Zigarette an, Pontiac-Tabak, 3,85 Euro das Päckchen. "Ich habe mir eben den Beipackzettel von so Schlaftropfen durchgelesen, die mir der Arzt verschrieben hat", sagt sie. Manchmal könne sie gar nicht schlafen, zwei, drei Nächte hintereinander, dann dümpele sie so rum, bis in den Morgen, das könne ja nun auch nicht gut sein. Deshalb die Tropfen.
Christine ist 58 Jahre alt und immer, wenn sie nicht schlafen kann, sieht sie fern. Am liebsten Weltkriegsdokumentationen, Krimis und Wiederholungen von Kochsendungen, Lafer! Lichter! Lecker!, Das perfekte Dinner, Grill den Henssler, solche Sachen. "Aber die kochen alle immer das Gleiche", sagt sie, Fleisch mit Gemüse und Beilage. Die meisten Gerichte kocht sie irgendwann trotzdem nach.
Christine ist arbeitslos. Als sie noch Arbeit hatte, war sie Tutorin für Deutsch und Mathe. Bis vor einem Jahr habe sie Flüchtlinge und Asylbewerber unterrichtet, erzählt sie. Dann sind die Firmen pleitegegangen. Manchmal ging ihr Unterricht nur sechs Wochen lang, aber in diesen sechs Wochen, sagt sie, seien ihr die Schüler so schnell ans Herz gewachsen. "Die waren so wissbegierig und aufmerksam und höflich." Sie will jetzt versuchen, einen Job an einer Volkshochschule zu bekommen, vielleicht suchen die jemanden wie sie. Gerade jetzt, wo doch vielen Deutsch beigebracht werden muss.
Christine lebt allein, hat keine Kinder, keinen Ehemann, ihr Freund wohnt in Harburg. Aus Prinzip sei sie nicht verheiratet, sagt sie. Der Staat habe in der Liebe nichts zu suchen, und genau das sei die Ehe doch, eine Einmischung des Staates in eine Beziehung. Aus Prinzip habe sie auch keine Kinder. Denen müsse man den Willen brechen – und das wolle sie nicht. Mit 24 Jahren hat sie sich sterilisieren lassen. Damit sie nicht ungewollt schwanger wird.
Es ist kurz nach drei, als Christine müde wird. In dieser Nacht braucht sie keine Schlaftropfen. Sie sperrt die Tür zu, schiebt ein wurstförmiges Frotteekissen gegen die Kälte an den Türspalt und knipst das Licht aus. Im Treppenhaus ist es dunkel, der orangefarbene Punkt des Lichtschalters weist den Weg in Richtung Ausgang. Draußen fällt der Blick auf die gegenüberliegende Häuserzeile, auf vier Eingänge und gut drei Dutzend Fenster: alles dunkel, Eimsbüttel schläft.
3:11 Uhr, St. Pauli
Im ersten Stock schimmert ein schwacher Schein durchs Fenster, auf dem Balkon sind nur die Silhouetten zweier Menschen zu sehen, sie rauchen. Bloß nicht klingeln, rufen sie runter, die Tochter schläft schon! Die Haustür öffnet sich brummend. Oben wartet Andi, 47 Jahre alt, blauer Hoodie, blonder Schnauzer. Die Dielen knarzen. Er schleicht ins Schlafzimmer und durch eine Flügeltür weiter ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa sitzt Sarah, 34, blonde, kurze Haare, sanfte Stimme, und flüstert: "Sorry, aber Frieda schläft schon."
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