Das literarische Selfie

  18 Januar 2016    Gelesen: 911
Das literarische Selfie
New Sincerity heißt der neue literarische Modetrend aus den USA: Abschied von der Ironie, stattdessen Exhibitionismus der eigenen Traurigkeit. Wodurch unterscheiden sich die wichtigsten Vertreter Marie Calloway, Tao Lin und Mira Gonzalez?
Wer weiß schon, wo der literarische Zeitgeist wohnt? Vielleicht ja hier: "Den ganzen Tag hatte ich Schmerzen, weil meine Vagina so wund war. Ich schrieb die ganze Zeit wie eine Verrückte alles in mein Notizbuch, was passiert ist."

Als Marie Calloways Buch Es hat echt überhaupt nichts mit Dir zu tun (aus dem Amerikanischen übersetzt von Jenny Merling; Ullstein Verlag, Berlin 2015; 288 S., 18,– €) in den USA erschien, waren etliche Kritiker von der Prosa der damals 23-Jährigen hingerissen. So schonungslos und so brutal. Es hieß: Calloway teste die Grenzen des Druckbaren aus. Die Geschichten allerdings, in denen Ritalin geschluckt, seitenlang gevögelt, geblasen und sich hernach "über Gramsci und unsere Gefühle" unterhalten wird, erzeugen keinen irgendwie unanständigen Kitzel. Sie sind hässlich und traurig. Das liegt an der Tonlage, in der Calloway von ihren (Selbst-)Erniedrigungen berichtet: In einem tiefgefrorenen Sprechblasenstil erzählt sie von Entjungferung, Hotelzimmersex mit älteren Männern und wie sie sich prostituiert. Eine Episode beginnt so: "Ich brauche Geld für Foundation von BareMinerals und Lippenstifte von MAC und Soja-Latte und Pizza. (...) Ich bin so jung und schön, dass Männer dreihundert Dollar dafür bezahlen, mit mir ins Bett gehen zu dürfen; die Prostitution ist die Bestätigung meiner Jugend und meiner Schönheit."

Ob dieser roboterhafte Bekenntniston, in dem Sexualität und Seelenhaushalt geschildert werden, nun gut ist oder schlecht, ist zunächst gar nicht die Frage. Man muss erst einmal sagen: Er klingt neu. Es gibt keine tröstenden Sätze, bloß ein namenloses Gefühl der Lähmung, nur Falsches im Falschen und überwältigende Peinlichkeit. Es ist, kurzum, eine zunächst sehr gespenstische Lektüre.

Marie Calloway ist ein Pseudonym. Der richtige Name der im Jahr 1990 geborenen Autorin ist unbekannt. Die Kunstfigur Marie Calloway stellt sich, abseits ihres Buchs, auf die gleiche bizarr unkokette Weise im Internet aus. Auf Fotos liegt sie in Unterwäsche auf dem Bett, auf anderen Bildern nahezu nackt. Ihr Buch enthält E-Mails und Chatprotokolle mit Männern, die sie fragen, ob sie auf Sperma im Mund stehe, und denen Calloway sagt, sie würde gerne benutzt werden wie eine Gummipuppe.

In Adrien Brody, der längsten Geschichte, schreibt sie einem New Yorker Kulturjournalisten: "hallo ich bin vom 26. mai bis 1. juni in brooklyn ich würde gern mit dir schlafen", wozu es schließlich mehrfach kommt. Der Text geriet im Nachhinein zu einem Skandal (denn in New York erkannten alle den Kulturjournalisten), und Calloway wurde zum neuen Star einer literarischen Bewegung, die seit einiger Zeit als Neue Aufrichtigkeit, als New Sincerity, vor allem die amerikanische Literaturkritik umtreibt.

Man hat sich darauf geeinigt, dass hier junge Schriftsteller eine Abkehr vom ironischen Erzählen versuchen. Als Gründungsschrift gilt ein Essay von David Foster Wallace, in dem er eine aufrichtige Sentimentalität forderte, das Risiko von unverstellten Emotionen statt ironischer Absicherung.

Dass Literatur Überdruss an der Uneigentlichkeit formuliert, ist nicht revolutionär. Christian Kracht schickte seinen Helden in 1979 aus den postmodernen Ironiehöllen ins chinesische Umerziehungslager. Douglas Coupland ließ in Girlfriend in a Coma das "Anything goes" durch die Apokalypse ausradieren, und die überlebende Partyclique war gezwungen, forthin ernsthaft und geläutert zu sein. Das Unbehagen in der Kultur ist auch in der New Sincerity ungebrochen. Sie reagiert darauf mit der konsequenten Vermischung von Leben und Literatur, von Autor und Figur, bis beides ununterscheidbar wird. Die Entblößungslust, die man im Internet antrifft, ist hier literarisches Programm. Zur postmodernen Literatur gehörte der Zweifel an der Erzählbarkeit des Menschlichen. Jetzt erzählt man von dem, was man am besten kennt: sich selbst. Kaum jemand beherrscht das derzeit besser als der New Yorker Autor Tao Lin, eine Schlüsselfigur der jungen Bewegung. Sowohl die Künstlerin Miranda July als auch die Schauspielerin Lena Dunham loben seine Bücher. In Calloways Buch fällt sein Name mit Bewunderung.

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