Am Ende schnurren fast 60 Jahre Diktatur auf weniger als tausend Seiten zusammen. So lang ist der dreiteilige Abschlussbericht, den die tunesische Kommission "Kommission für Wahrheit und Würde" am Dienstag vorgelegt hat. Seit 2014 hat das Gremium Menschenrechtsverstöße untersucht, die zwischen 1955 - dem Jahr vor der Unabhängigkeit von Frankreich - bis 2013 in Tunesien begangen wurden.
Vorbild war die Versöhnungs- und Wahrheitskommission in Südafrika, die zwischen 1996 und 1998 die Verbrechen der Apartheid aufarbeitete. In Tunesien ging es um die Abrechnung mit der Diktatur, um die Dokumentation staatlicher Verbrechen, um eine mögliche Aussöhnung zwischen Tätern und Opfern. Und es ging darum, zu verhindern, dass sich erneut ein System etabliert, das mit willkürlichen Verhaftungen und Folter seine Macht sichert.
In Tausenden Anhörungen hinter verschlossenen Türen schilderten Tunesier der Kommission, wie sie unter der Herrschaft der Diktatoren Habib Bourguiba, der von 1957 bis 1987 herrschte und seines bis zum Sturz des Regimes 2011 amtierenden Nachfolgers Zine el-Abedine Ben Ali litten. Außerdem wurden 14 Sitzungen der Wahrheitskommission im tunesischen Fernsehen übertragen.
Insgesamt hat das Gremium 62.720 Fälle gesammelt. Davon sind bislang weniger als 200 an Gerichte weitergeleitet worden, die nun darüber entscheiden, ob früheren Vertretern des Systems der Prozess gemacht wird.
Doch zahlreiche Offizielle, die einst willfährige Diener der Diktatoren Bourguiba und Ben Ali waren, sind auch heute noch in Amt und Würden. Bekanntester unter ihnen: der oberste Mann im Staate, Präsident Béji Caïd Essebsi. Die Wahrheitskommission erhebt in ihrem Abschlussbericht schwere Vorwürfe gegen den 92-Jährigen. Im Abschnitt "System der Tyrannei", der allein mehr als 200 Seiten umfasst, wird Essebsi als eine der Personen aufgeführt, die Folter "befohlen, vorbereitet und verschwiegen" haben sollen. Das sei "ein systematisches und geplantes Verbrechen" gewesen, heißt es.
Essebsi war in den Sechzigerjahren zunächst Chef des Sicherheitsdienstes und später Innenminister. In diesen Rollen hatte er unter anderem die Aufgabe, Regimegegner zu verfolgen, die 1962 einen erfolglosen Putschversuch gegen Bourguiba unternommen hatten. In den letzten Jahren der Herrschaft Ben Alis distanzierte sich Essebsi vom System - so konnte er nach der sogenannten Jasminrevolution 2011 ein politisches Comeback feiern. Er präsentierte sich als Bewahrer des säkularen Erbes des gestürzten Regimes und als Vorkämpfer gegen den Einfluss der Islamisten. Eine Botschaft, die bei vielen Tunesiern bis heute gut ankommt.
Zugleich aber ist Essebsi der mächtigste Befürworter eines Schlussstrichs unter die Zeit der Diktatur. "Es ist falsch, alte Rechnungen zu begleichen", sagte der Staatschef im vergangenen Jahr. Die Kommission handle "wie ein Staat im Staat" und säe Zwietracht in der tunesischen Gesellschaft. Anhänger des Präsidenten beschuldigten die Kommission, sie helfe den Islamisten. Tatsächlich waren aber Islamisten nun einmal die am stärksten verfolgte Oppositionsgruppe unter Bourguiba und Ben Ali - deshalb nahm ihre Verfolgung in der Aufarbeitung großen Platz ein
Essebsi verweigerte die Zusammenarbeit mit der Kommission. Und mehr noch: "Der Sicherheitsapparat des Präsidenten hinderte die Kommission daran, die Archive des Präsidenten zu betreten", heißt es im Abschlussbericht.
Die Regierungspartei von Essebsi, Nidaa Tounes, sorgte im vergangenen Jahr per Parlamentsbeschluss auch dafür, dass das Mandat der Wahrheitskommission Ende 2018 auslief und nicht mehr verlängert wurde.
Für Sihem Bensedrine, Vorsitzende der Wahrheitskommission, waren die vergangenen fünf Jahre die schwierigsten ihrer beruflichen Laufbahn. Einerseits wurde ihr Büro in Tunis permanent von Familien der Opfer des einstigen Regimes belagert, denen der ganze Prozess viel zu lange dauert und die sich schnelle Wiedergutmachung erhoffen. Auf der anderen Seite stand sie unter Druck der Regierung, die ständig deutlich machte, dass ihre Arbeit eigentlich unerwünscht sei.
Hinzu kamen Machtkämpfe innerhalb der Kommission und persönliche Angriffe in den regierungsnahen Medien: Kommentatoren machten sich über die modebewusste Endsechzigerin lustig, Karikaturisten stellten sie als Prostituierte und Spionin dar.
spiegel
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