Sechs Gründe, sich zu empören

  19 Januar 2016    Gelesen: 763
Sechs Gründe, sich zu empören
Die Kluft zwischen Arm und Reich ist skandalös groß. Das ist nicht nur ein moralisches, sondern ein ganz praktisches Problem. Warum Ungleichheit allen schadet.
Diese Zahlen beschreiben eine Obszönität. Die reichsten 62 Personen des Planeten besitzen zusammen 1,76 Billionen Dollar – ebenso viel wie die ärmere Hälfte der Menschheit, rund 3,5 Milliarden Personen. Und die Ungleichheit wächst sehr schnell. Das zeigt ein Report, den die Entwicklungsorganisation Oxfam gerade vorgelegt hat.

Eine derartige Ungleichverteilung von Vermögen ist ein Skandal. Es hat nichts mit Neid zu tun, sich darüber zu empören, denn die große Konzentration von Reichtum ist schädlich für uns alle. Sechs Gründe:

1. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

An dieser Stelle die Menschenrechte zu bemühen, mag pathetisch sein. Aber ab und zu muss an sie erinnert werden. "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren", hält die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte fest, Artikel eins, erster Satz. Er enthält die zentralen Werte, auf die westliche Gesellschaften sich berufen.

Niemand aber kann sich mit leerem Magen frei entfalten. Oxfam schätzt in der aktuellen Studie, dass wesentlich mehr Menschen der extremen Armut hätten entkommen können, wäre die Ungleichheit nicht so groß. Gleichheit bedeutet selbstverständlich nicht, dass der Staat jedem die gleichen Lebensbedingungen garantieren muss. Aber jeder muss die Chance bekommen, sich zu entwickeln und sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Irgendetwas läuft sehr, sehr schief, wenn das Wirtschaftssystem und die Machtverhältnisse in der Politik das verhindern und zugleich einem winzigen Teil der Weltbevölkerung die Anhäufung enormer Reichtümer ermöglichen.

2. Zu große Ungleichheit bremst Wachstum und Entwicklung

Für alle, die mit Pathetik nichts anfangen können, hier die nüchterne ökonomische Perspektive. Bislang war umstritten, ob Ungleichheit der Wirtschaft schadet oder nützt. Sie könne den Einzelnen zu mehr Anstrengung motivieren und so das Wachstum ankurbeln, glaubte die eine Seite. Sie nehme den Ärmeren Bildungs- und Entwicklungschancen und schade damit der gesamten Wirtschaft, sagte die andere. Möglicherweise liegt die Wahrheit in der Theorie irgendwo dazwischen. Dann wäre Ungleichheit motivierend, so lange die Kluft nicht unüberwindbar groß wird.

In der Praxis scheint aber gerade genau das zu passieren. Janet Yellen, die Chefin der US-Notenbank Fed, warnte schon vor anderthalb Jahren vor einer Ungleichheit, die Aufstiegschancen zunichte mache. Die Industrieländer-Organisation OECD sieht Wirtschaftswachstum und sozialen Frieden in Gefahr. Der Weltwährungsfonds kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Es sind Institutionen, die nicht gerade sozialistischer Umtriebe verdächtig sind. Ihre Expertise muss man ernst nehmen.
3. Es liegt nicht an der Leistung

Wer viel leistet, hat sich sein Vermögen eben verdient, oder? Das ist die meritokratische Verteidigung der Ungleichheit. Doch sie funktioniert nicht mehr, weil die Kluft zwischen den Einkommen zu groß geworden ist. Oxfam zufolge bekommt der Chef von Indiens größter IT-Firma 416mal so viel wie einer seiner typischen Angestellten, und in den USA sind die Gehälter der Konzernbosse seit dem Ende der 1970er Jahre um 90mal schneller gestiegen als die ihrer durchschnittlichen Mitarbeiter. Mit ihrer Leistung hat das wohl nur begrenzt zu tun, vermutlich viel mehr mit der Entwicklung der Börsenkurse in den vergangenen Jahrzehnten.

Ein Blick in die jüngste Forbes-Liste zeigt: Viele Superreiche haben ihr Geld mit Technologie gemacht (Bill Gates, Mark Zuckerberg), in der Finanzbranche (Warren Buffet, George Soros), mit Konsumgütern oder Billigmode (Amancio Ortega von Zara, Stefan Persson von H&M). Vermutlich arbeiten viele von ihnen hart. Vor allem aber hatten sie einfach Glück, in einer lukrativen Branche unterwegs zu sein. Viele Arbeiter aber schuften bis zur Erschöpfung und erhalten dennoch einen Hungerlohn. Die Näherinnen in Myanmar, die Oxfam nennt, sind dafür nur ein Beispiel. Fragen Sie die Wanderarbeiter in deutschen Schlachthöfen, die können es bestätigen: Harte Arbeit macht nicht automatisch reich.

4. Das Geld fehlt anderswo

Oxfam zufolge haben die Vermögenden der Welt derzeit rund 7,6 Billionen Dollar in Steueroasen wie der Schweiz, Luxemburg oder Singapur geparkt. Die reichsten Unternehmen und Privatpersonen beschäftigen ein Heer von Investmentberatern und Anwälten, um ihr Vermögen vor dem Fiskus in Sicherheit zu bringen. Die Steuern, die sie nicht zahlen, fehlen dann in den öffentlichen Kassen: für Bildung, Investitionen, Krankenversorgung, Sozialhilfe.

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