Die Debatte und die Abstimmung über den Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) fanden kurz vor den Osterferien statt. Das erklärt vielleicht, warum der Vorgang mehr oder weniger unbeachtet von einer breiten Öffentlichkeit durch das Europäische Parlament gebracht werden konnte. Dabei war die Aussprache im Plenum am Straßburger Sitz der EU-Volksvertretung ausgesprochen lebhaft und streckenweise scharf im Ton.
Die EU-Bevölkerung wird sich an diese Debatte aber wohl erst zurückerinnern, wenn Fakten geschaffen wurden. Das wird erst nach den bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament sein, für die derzeit auf allen Ebenen intensiv geworben wird. Spätestens wenn es um die ersten umstrittenen Rüstungsprojekte geht, werden die Wählerinnen und Wähler feststellen, dass sich das von ihnen legitimierte Parlament kurz vor den Wahlen 2019 in einer wichtigen Frage selbst entmachtet hat. Zukünftig hat das EU-Parlament keine Möglichkeiten der Mitsprache mehr, wenn Rüstungsprojekte beschlossen werden, die aus dem EVF bezahlt werden sollen, der über 13 Milliarden Euro verfügen wird.
EU-Industriekommissarin verteidigt den Verteidigungsfonds
Dieses Detail war auch eines der immer wiederkehrenden Hauptargumente in der rhetorischen Auseinandersetzung zwischen den EU-Abgeordneten aus verschiedenen politischen Lagern und Staaten untereinander und zwischen den Abgeordneten und Vertretern der EU-Kommission. Für letztgenannte warf sich die Kommissarin „für Binnenmarkt, Industrie und Unternehmertum sowie kleine und mittlere Unternehmen“, Elżbieta Bieńkowska, in die Redeschlacht. Bevor ihr Landsmann Donald Tusk EU-Ratspräsident wurde, hatte er Bieńkowska in sein Kabinett geholt, wo sie den Bereich Infrastruktur und Entwicklung verantwortete.
Im Straßburger Parlament versuchte sie noch einmal wortreich, alle Zweifel, Sorgen und Kritik zu zerstreuen, der EVF wäre der Beginn des Aufbaus einer Parallelstruktur zur Nato, er würde vor allem große Rüstungskonzerne bevorzugen und er würde es erleichtern, ethisch verwerfliche Waffen zu entwickeln. All das sei falsch, sagte Elżbieta Bieńkowska:
„Der EVF wird einerseits die strategische Autonomie Europas bei der Unterstützung der Entwicklung der wichtigsten Verteidigungsfähigkeiten stärken, andererseits wird er durch eine verstärkte Zusammenarbeit die Effizienz der öffentlichen Verteidigungsausgaben steigern.“
Europa werde ein „wahrer Sicherheitsdienstleister“, so die Kommissarin und „der Fonds schließt auch eindeutig Maßnahmen zur Entwicklung tödlicher autonomer Waffen ohne menschliche Kontrolle aus.“
Viel Kritik am Verteidigungsfonds aus grundsätzlichen Gründen
Diese Aussage kommentierte die portugiesische „Linksblock“-Politikerin Marisa Matias mit einem sarkastischen Vergleich mit dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. De facto warf sie der EU-Kommission Etikettenschwindel vor, den sie mit ihren Lobpreisungen für den EVF betreibe: „Die technischen Lösungen, die für den Verkauf von Waffen gefunden wurden, sind nichts anderes als das Waschen von Waffengeschäften. Die Europäischen Bürger brauchen in der Tat Sicherheit, aber Job-Sicherheit, Jobs mit Rechten, Sicherheit in den Öffentlichen Diensten, Sicherheit in der Zukunft.“
Auch der frühere Bundesvorsitzende der Grünen Partei in Deutschland, Reinhard Bütikofer, der seit 2009 im Europäischen Parlament sitzt, ließ kein gutes Haar am Verteidigungsfonds. Zunächst griff er seine französischen Kollegen an, von denen er „die blanke Interessenvertretung des französischen Rüstungslobbyismus und militaristische Ideologie obendrein“ erlebt habe. Dann warnte Bütikofer alle Abgeordnetenkollegen, auch aus seiner eigenen Fraktion, die mit „Ja“ stimmen wollten, einen schwerwiegenden Fehler zu begehen:
„Was wir jetzt haben, ist ein Verteidigungsfonds, dessen Ethikvorschriften nur bloße Fassade sind. Ein Verteidigungsfonds, der völlig ohne parlamentarische Kontrolle 13 Milliarden auf sieben Jahre ausgeben soll. Ein Verteidigungsfonds, der darauf hinausläuft, dass wir mehr Rüstungsexporte haben werden. Eine solche Selbstkastration des Europäischen Parlaments ist eine Schande.“
Der französische Sozialdemokrat Edouard Martin zeigte sich fassungslos über die Argumentation der Fonds-Befürworter, wonach es sich bei der Frage der Kontrolle des Parlamentes über den Fonds „nur“ um eine „technische Frage“ handele. Es gehe hier um 13 Milliarden Euro an Steuergeldern, das sei nicht einfach ein technisches Detail. Auch die Verteidigungsstrategie von Kommission und anderen Befürwortern, mit einem Verweis auf das Völkerrecht genüge man allen ethischen Ansprüchen, war für Martin unerträgliche Verharmlosung. Er verwies dazu auf Weißen Phosphor, der für Munitionssuche erlaubt sei, aber als Brandsatz unter Strafe stehe. Das aber finde man im Völkerrecht gar nicht. Gleiches gelte für angereichertes Uran. Edouard Martin appellierte an seine Parlamentskollegen:
„Kurz gesagt, da alles, was nicht verboten ist, erlaubt ist, müssen die Aufrüstungen, in die die Europäische Union nicht investieren soll, förmlich aufgeführt werden.“
Faule Kompromisse bei Waffenexporten und Beschimpfungen für Kritiker
Nicht zuletzt die Tatsache, dass die Entscheidungsgewalt für Waffenexporte in die Hoheit der Staaten gelegt wurde, entsetzte viele kritische Abgeordnete. Das hinderte aber die Mehrheit des Europäischen Parlamentes nicht, dem Fonds zuzustimmen und damit die Vertretung des EU-Volkes in einer so wichtigen Frage zu entmachten. Die Kritiker mussten sich Beschimpfungen gefallen lassen. Etwa vom deutschen CDU-Abgeordneten Michael Gahler:
„Umso bedauerlicher finde ich es, dass Teile dieses Hauses von links und rechts unseren Bürgern diesen besseren Schutz vorenthalten möchten. Das ist grob fahrlässig – fahrlässig gegenüber unseren Bürgern, die die beste Verteidigung verdient haben, fahrlässig aber auch gegenüber unseren Soldaten, die derzeit unsere Sicherheit unter EU-Flagge zum Beispiel in Mali, vor der Küste Somalias oder im Mittelmeerraum verteidigen.“
Es darf als sicher gelten, dass Gahler einer der ersten wäre, der sich darüber aufregen würde, wenn andere Staaten oder Staatenbündnisse solche Sicherheitsinteressen fernab ihrer tatsächlichen Grenzen geltend machen würden. Aber so funktionieren nun einmal westliche Doppelstandards.
EVF-Ablehnung wegen „Machtübertragung an nicht gewählte Bürokraten“
Ablehnung erfuhr der EVF auch aus anderen Ecken des politischen Spektrums im Europäischen Parlament. So geißelte der britische Abgeordnete Jonathan Bullock den Fonds als weiteren Versuch, die Souveränitätsrechte der Nationalstaaten zugunsten der Vision von den Vereinigten Staaten von Europa zu beschneiden. Bullock sitzt für die Brexit-Partei im EU-Parlament, eine Abspaltung der UKIP, die das Brexit-Referendum maßgeblich zu verantworten hat. Wörtlich sagte Bullock:
„Ich finde es absolut unwirklich, wie eine Reihe von nicht gewählten Bürokraten Entscheidungen über Verteidigung, über Krieg und Frieden treffen. Meine Kollegen und ich sind entschieden gegen die Schaffung einer EU-Armee, und wir hoffen, dass die Mitgliedstaaten bald erkennen werden, dass es ein Fehler ist, der nicht gewählten EU-Kommission in Brüssel mehr Macht zu geben.“
EU-Kommission „verkauft Unabhängigkeit“ und hilft „beim Aufbau des Vierten Deutschen Reiches“
Zu einem Beinahe-Eklat führte der Redeauftritt des polnischen Abgeordneten Dobromir Sośnierz. Er ist Mitglied der EU-kritischen Wolność-Partei, die als Abkürzung den Namen KORWiN trägt. Das soll auf den Parteigründer Janusz Korwin-Mikke verweisen, zu dem wir gleich noch kommen. Zunächst zurück zu seinem Nachfolger im Parlament, Dobromir Sośnierz. Er lehnte den Europäischen Verteidigungsfonds rundweg ab, da er trotz aller gegenteiligen Beteuerungen „ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Aufbau einer europäischen Armee“ sei.
Sośnierz vermutete vor allem deutsche Interessen hinter diesem Fonds, der den „Verlust der vollen Kontrolle über unsere Armee“ bedeuten würde, was er als „eine tödliche Bedrohung für uns“ bezeichnete, um dann zu schimpfen: „Sie verkaufen einfach unsere Unabhängigkeit und helfen beim Aufbau des Vierten Deutschen Reiches.“
„Viertes Reich“-Tirade aus bekannter politischer Ecke im Europa-Parlament
Das Parlament blieb einigermaßen gelassen, weil Dobromir Sośnierz nicht der erste Vertreter seiner Partei ist, der im Europäischen Parlament solche Vergleiche zog, womit wir wieder beim Parteigründer Janusz Korwin-Mikke wären, dessen Mandat Sośnierz quasi geerbt hatte. Korwin-Mikke sorgte am 7. Juli 2015 im Straßburger Plenum für Protest, Unverständnis und Forderungen nach Konsequenzen, als er in einer Debatte um die Einführung eines EU-einheitlichen Fahrscheins die Nerven verlor und lospolterte:
“Die ganze Zeit über reden Sie hier von Diversität, die dieses Parlament verteidige. Aber insgesamt geht es bei den Abstimmungen hier nur darum, Einheitlichkeit herzustellen. Sie sind nämlich gar nicht für Diversität, sondern für Vereinheitlichung. Und in diesem Fall heißt das ein Reich, ein Volk, ein Ticket.“
Die Wolność-Partei will in Polen einen Staat kreieren, der praktisch nur noch für Armee und Polizei sorgen soll, während alle anderen staatlichen Aufgaben und Leistungen privatisiert werden sollen.
Die Messen sind gelesen, das EU-Parlament hat sich selbst entmachtet
Jetzt liegt der Ball im Spielfeld der zuständigen Minister. Das im Mai neugewählte Europäische Parlament wird sich im Herbst zwar noch einmal mit dem Europäischen Verteidigungsfonds befassen, dann aber nur noch mit finanziellen Details, die in diesem Fall tatsächlich „technisch“ genannt werden können. Jedes weitere Mitspracherecht bei Rüstungsprojekten, die aus den Mitteln des Fonds finanziert werden, hat sich dieses Parlament aber selbst aus der Hand genommen beziehungsweise aus der Hand nehmen lassen. Und das bei einem Parlament, dessen Daseinsberechtigung von nicht wenigen EU-Bürgern angezweifelt wird. Wahlwerbung kann man das Verhalten des EU-Parlamentes im Zusammenhang mit dem Europäischen Verteidigungsfonds nicht nennen.
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