Erdogan schmeichelt plötzlich den Kurden

  31 Mai 2019    Gelesen: 403
Erdogan schmeichelt plötzlich den Kurden

Der türkische Präsident will Istanbul nicht an die Opposition verlieren. Deshalb wendet sich Recep Tayyip Erdogan jetzt ausgerechnet den Kräften zu, die er jahrelang geächtet hat: den Kurden.

Mahmut Sakar erinnert sich an seine Kindheit. "Traue nicht dem Regime", trichterten ihm die Menschen ein, bei denen er aufwuchs - damals in Diyarbakir, der Kurdenhochburg im Südosten der Türkei. Sakar ist mittlerweile 52 Jahre alt, er ist einer der Anwälte des inhaftierten Kurdenführers Abdullah Öcalan und er ist sich sicher: Die Kurden trauen dem Regime auch heute nicht.

Sakar schließt aus, dass sie bei den Neuwahlen des Bürgermeisters von Istanbul plötzlich für den Kandidaten des Präsidenten stimmen. "Ich weiß, dass die Kurden am 23. Juni ihre Meinung nicht ändern werden", sagt er. Recep Tayyip Erdogan droht in der wichtigsten Metropole des Landes eine weitere bittere Niederlage. Denn die Stimmen der Kurden sind wohl seine letzte Chance, sich an den Urnen die Stadt zu sichern.

Bei den Kommunalwahlen Ende März gewann der Kandidat der kemalistischen CHP, Ekrem Imamoglu, überraschend das Bürgermeisteramt in der Metropole am Bosporus. Erdogan und seine AKP nahmen die Niederlage nicht hin. Sie legten beim Hohen Wahlausschuss Einspruch ein. Erfolgreich. Die vermeintlich unabhängige Institution nahm Imamoglu das Mandat wieder ab und verkündete eine zweite Wahlrunde. Doch das reicht für einen späten Triumph Erdogans noch nicht. Zwar trennten Imamoglu und den Kandidaten der AKP, Ex-Ministpräsident Binali Yildirim, kaum 14.000 Stimmen. Doch das Wählerpotenzial der Erdogan-Partei scheint ausgeschöpft zu sein. Deshalb wendet sich der Präsident jetzt ausgerechnet den Kräften zu, die er jahrelang verteufelte: den Kurden.

Besuchsverbot für Öcalan beendet

Schon kurz bevor die Wahlkommission die Neuwahlen verkündete, ließ Erdogan erstmals seit acht Jahren zu, dass Kurdenführer Öcalan Besuch von seinen Anwälten bekam. Öcalan sitzt seit 1999 in einem Hochsicherheitstrakt auf der Gefängnisinsel Imrali ein. Schon der einmalige Bruch seiner jahrelangen Totalisolation war eine kleine Sensation. Doch Erdogan setzte noch eines drauf. Er ließ das Besuchsverbot wenig später ganz fallen. Hunderte Kurden, die aus Solidarität mit Öcalan in den Hungerstreik getreten waren, konnten ihren Protest beenden. Vielen dürfte dies das Leben gerettet haben. Zugleich verkündete Erdogans AKP nun, vor allem in den Bezirken Istanbuls für ihren Kandidaten zu werben, in denen besonders viele Kurden leben. Prompt wurde gemunkelt, dass dies der Beginn eines neuen Friedensprozesses sein könnte.

Diese Hoffnung weckte Erdogan schon einmal. In den ersten Jahren seiner Herrschaft räumte er den chronisch unterdrückten Kurden immer mehr Freiheiten ein. Führer Öcalan rief in einer Ansprache, die er 2013 im Gefängnis verfasste, den bewaffneten Arm der kurdischen Bewegung, die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK, dazu auf, die Waffen ruhen zu lassen. Es begannen Gespräche, um den jahrzehntealten Konflikt endlich zu befrieden. Doch die Gespräche führten zu nichts. Erdogan beendete den Friedensprozess 2015 - nachdem die Kurden in Syrien erstarkten und der prokurdischen Partei HDP der Einzug ins türkische Parlament gelang. Plötzlich fehlte Erdogans AKP die absolute Mehrheit.

Anwalt Sakar, der mittlerweile im Exil in Köln lebt, glaubt nicht an eine Rückkehr an den Verhandlungstisch. Noch nicht zumindest. "Ich glaube, das Regime ist so schwach wie noch nie in seiner Geschichte." Das sei eine Chance, aber auch eine Gefahr, sagt er. "Ein schwacher Staat kann auch sehr verrückte Sachen machen", sagt Sakar. "Staaten begehen Völkermorde, wenn sie geschwächt sind."

Erdogans Versuch, die Kurden kurzfristig auf seine Seite zu ziehen, wirkt auch angesichts der jüngsten türkischen Geschichte verzweifelt. Nachdem Erdogan 2015 die Friedensverhandlungen für beendet erklärte, ließ er ganze Städte im Südosten der Türkei zu Trümmerfeldern zusammenschießen. Er ließ etliche prominente Vertreter der legalen Kurdenpartei HDP einsperren, setzte Journalisten und Künstler unter Druck. Diese vier düsteren Jahre geraten nicht in vier Wochen Wahlkampf und durch ein paar Anwaltsbesuche in Vergessenheit.

Imamoglu in Umfragen vorn

Insbesondere in Istanbul haben die Stimmen der Kurden Gewicht. In der Metropole leben mindestens zwei Millionen Kurden, knapp 15 Prozent der Bevölkerung. Die meisten von ihnen stimmten Ende März für Imamoglu. Die Anhänger der Kurdenpartei HDP waren laut dem Chef des Meinungsforschungsinstituts A&G, Adil Gur, zugleich aber auch die größte Gruppe der Nichtwähler. Sie machten 18 Prozent derjenigen aus, die die Wahl boykottiert hätten, sagte Gur der Tageszeitung "HaberTurk". Auch auf sie dürfte es Erdogan abgesehen haben. Denn ihm ist klar, dass einige von ihnen Imamoglu ganz bewusst ihre Stimme verwehrt haben.

Imamoglus CHP ist die Partei des Republik-Gründers Mustafa Kemal Atatürk. Sie steht noch viel mehr als Erdogans AKP für eine lange Tradition der Unterdrückung der Kurden im Lande. Selbst Imamoglu, der sich als Brückenbauer in Szene setzt, umgarnt noch die türkischen Ultranationalisten. "Für die allermeisten Kurden gibt es keinen großen Unterschied zwischen der AKP und der CHP", sagt Öcalan-Anwalt Sakar. Dass überhaupt so viele Kurden in der ersten Runde für Imamoglu stimmten, hatte vor allem strategische Gründe. "Unser Ziel war es, zum Verlust der AKP beizutragen. Das heißt nicht, dass wir die CHP gut finden", so Sakar. Die HDP stellte in den Metropolen keine eigenen Kandidaten auf. Sie animierte ihre Anhänger zugleich dazu, für die CHP zu stimmen, um den Aufstieg des immer autokratischeren Erdogan zu stoppen. Die CHP als geringeres Übel. Daran ändert sich auch angesichts der Charme-Offensive des Präsidenten offenbar wenig. Zumal Erdogan seinen Kampf gegen die PKK in ihren Rückzugsgebieten im Nordirak parallel dazu mit aller Härte fortsetzt. In den Meinungsumfragen zeichnet sich bereits ab: Imamoglu wird auch bei den Neuwahlen die meisten Stimmen in Istanbul bekommen.

Quelle: n-tv.de


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