Die Person Ursula von der Leyen, ihre Herkunft und Biografie verkörpern die gesamteuropäischen Ambitionen der deutschen Elite, wie die Zeitung „vz.ru“ schreibt.
Das EU-Parlament wählte Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionschefin. Sie erhielt 383 Stimmen, das sind neun Stimmen mehr als sie benötigte. Doch diesem Ergebnis ging eine Intrige voraus. Zunächst konnten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs bei drei Sondergipfeln nicht auf die Kandidaten für die Schlüsselposten in der EU einigen – vor allem für das Amt des EU-Kommissionschefs. Danach fühlten sich einige EU-Parlamentsfraktionen gekränkt, weil die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder auf das Parteienprinzip bei der Nominierung der Kandidaten verzichteten, und drohten mit einer Abstimmung gegen von der Leyen. Doch im Ergebnis bekam die 60-jährige Mitstreiterin Angela Merkels dennoch den begehrten Posten.
Vor der Abstimmung nannte von der Leyen ihre Prioritäten – Kampf gegen Klimawandel, Stärkung der Wirtschaft, Kampf gegen illegale Einwanderung, Gewährleistung der Gleichheit der Geschlechter und Schutz der Frauen vor Gewalt. Ihr zufolge soll die Nato die führende Rolle bei der europäischen gemeinsamen Verteidigung beibehalten, was allerdings durch das europäische Sicherheitssystem ergänzt werde. Europa solle in der Welt mit einer lauteren und einheitlichen Stimme sprechen, sagte die künftige EU-Chefin.
Zum ersten Mal seit 1968 wird Europa von einem deutschen Vertreter geleitet. Allerdings gab es in den 1960er-Jahren noch keine EU und die EWG hatte bei Weitem nicht das Integrationsniveau wie die heutige EU. Symbolisch ist auch, dass die Wahl der deutschen Kandidatin vor dem Hintergrund des Brexit über die Bühne ging – des Überganges des Projektes der EU-Integration in eine neue Etappe.
Die Wahl von der Leyens ist jedoch nicht nur deshalb symbolisch, weil sie eine Deutsche ist.
Die neue EU-Kommissionschefin gehört zur deutschen Aristokratie – und nicht nur von Seiten ihres Mannes, sondern auch von ihrer Geburt her.
Ihr Vater Ernst Albrecht gehörte zu einer bekannten niedersächsischen Familie – zwar nicht so alt und hochadlig wie von der Leyen. Die Albrecht-Familie ist erst seit Ende des 15. Jh. bekannt. Weitere Vorfahren sind die Bremer Kaufleute Knoop. Ihr Ur-Ur-Urgroßvater, der Bremer Großkaufmann Ludwig Knoop, arbeitete den größten Teil seines Lebens in Russland, er organisierte zusammen mit Sawwa Morosow die erste Textilfabrik und erhielt anschließend von Zar Alexander II. den Titel eines Barons.
Ihr Vater Albrecht bekleidete 14 Jahre lang den Posten des niedersächsischen Ministerpräsidenten. 1990 wurde der Sozialdemokrat und künftige Bundeskanzler Gerhard Schröder sein Nachfolger. Von der Leyen ging Ende der 1990er-Jahre in die Politik, bereits 2005 wurde sie Bundesministerin in der ersten Regierung Merkels.
Dabei verbrachte sie ziemlich viel Zeit im Ausland. Ihr Vater arbeitete 1958 in Brüssel in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die später in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft umgewandelt wurde. Insgesamt arbeitete er dort 17 Jahre lang, am Ende seiner gesamteuropäischen Karriere bekleidete er den Posten des Leiters der Abteilung für Wettbewerb.
Nun wird seine Tochter ganz Europa regieren und nach Brüssel zurückkehren, wo sie bis zum 13. Lebensjahr lebte. Eigentlich lebte sie nie lange in Niedersachsen. 1971 ging sie in eine Schule in Hannover, dann an eine Universität, doch bereits 1978 wurde sie an die London School of Economics and Political Science geschickt. Es stellte sich heraus, dass dieser Beschluss mit Lebensgefahr verbunden war. Wie die Zeitung „The Telegraph“ schreibt, bekam der Ministerpräsident Niedersachsens Informationen, dass die Rote-Armee-Fraktion (RAF) einen Anschlag auf seine Tochter plant. „Frau von der Leyen, geborene Ursula Albrecht, stand vor einer Wahl – weiter in Deutschland unter 24/7-Überwachung studieren oder nach London unter einem Decknamen umziehen…“
Die 19-jährige Ursula ging an die London School of Economics and Political Science unter einem falschen Namen. Nach mehreren Jahren gab sie zu, dass sich ihre Weltanschauung innerhalb eines Jahres in London bildete, sie erfuhr „die neue Freiheit“ und „Freude des Lebens“, die es im „weißen“ Deutschland damals gar nicht gab.
Nach einem Jahr kehrte sie nach Deutschland zurück, um weiter Medizin in Hannover zu studieren. Nach dem Hochschulabschluss begann sie ein Doktor-Studium, arbeitete als Assistenzärztin an der Universitätsklinik, promovierte. Doch bereits 1992 zog sie zusammen mit ihrem Ehemann in die USA um. Die darauffolgenden vier Jahre lebte die Familie in den USA, als ihr Ehemann an der Stanford University arbeitete. Das Ehepaar hat sieben Kinder – sehr untypisch für die moderne deutsche Politelite.
Nach der Rückkehr nach Deutschland war von der Leyen im Bereich Medizin an der Universität Hannover tätig, 2003 ging sie plötzlich in die Politik. Zunächst auf regionaler Ebene in Niedersachsen, doch nach nur einigen Jahren zog sie nach Berlin um und wurde Familienministerin in der Regierung von Angela Merkel. Sie war 47. Doch niemand kannte sie – weder auf Bundesebene noch auf der niedersächsischen Ebene. Dafür kannten alle ihren Vater.
Im Laufe von 14 Jahren in den Regierungen von Angela Merkel bekleidete sie drei Ministerposten. Am längsten leitete sie das Verteidigungsministerium – sie war die erste Frau in diesem Amt. Jetzt wollte ihre Vorgesetzte sie zur ersten Frau als Chefin der EU machen.
Zunächst wollte Merkel den Chef der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament, Manfred Weber, als EU-Kommissionschef sehen. Der bayerische CSU-Politiker verbrachte den größten Teil seines politischen Lebens in Brüssel. Die EVP hat es zwar geschafft, nach den Parlamentswahlen im Mai die größte Fraktion im EU-Parlament beizubehalten, gegen die Pläne Merkels wehrte sich aber Macron. Er wollte seine Kandidaten durchsetzen. Doch im Ergebnis ging er einen Kompromiss in Form von Ursula von der Leyen ein. So lautet allerdings die halboffizielle Version, die aber Zweifel aufkommen lässt. Weder Weber noch Ursula von der Leyen sind zwar starke Politiker, das Gewicht der letzteren sowie die Nähe zu Merkel sind jedoch höher. Auf den ersten Blick ist unklar, wozu Macron gegen die Kandidatur eines Deutschen auftritt und danach der Kandidatur einer anderen Deutschen zustimmt.
Von der Leyen ist Schatten und Kreatur Merkels. Wenn Merkel vorzeitig zurücktritt – die Chancen auf den Zerfall der Koalition und ihrer Regierung bereits in diesem Jahr sind ziemlich groß – würde dies die Position von der Leyens schwächen. Natürlich wird jeder neue deutsche Bundeskanzler die deutsche EU-Kommissionschefin umfassend unterstützen, auch wenn sie verschiedene Parteien vertreten. Doch wird von der Leyen die Politik der EU-Integration ausgehend von deutschen Interessen durchführen? Oder gewinnt der gesamteuropäische Geist? Darauf konnte Macron vielleicht setzen. Das werden wir wohl schon ziemlich bald erfahren – nachdem von der Leyen Amtsinhaber Jean-Claude Juncker Ende Oktober ablöst.
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