Das Vereinigte Königreich droht ein gescheiterter Staat zu werden

  22 Auqust 2019    Gelesen: 686
 Das Vereinigte Königreich droht ein gescheiterter Staat zu werden

Das ignorante Vorgehen der britischen Regierung erfüllt die Kriterien eines „Failed States“. Und wer Kritik übt, gilt als „Volksfeind“. Ein Gastbeitrag.

Was ist ein gescheiterter Staat? Vor noch nicht allzu langer Zeit, als ich britischer Entwicklungsminister und später EU-Kommissar für Außenbeziehungen war, hätte ich vermutlich versucht, die Frage durch Verweis auf konkrete Beispiele, darunter verschiedene lateinamerikanische und afrikanische Länder, zu beantworten.

Ich hätte tribalistische Konflikte, Militärputsche, wirtschaftliches Versagen, extreme Armut und hohe Sterblichkeitsraten herausgestellt. Vielleicht hätte ich auf das Versäumnis wohlhabenderer Gesellschaften verwiesen, sicherzustellen, dass die Globalisierung allen zugute kommt und nicht bestimmte Gemeinschaften im Mangel gefangen hält. Auch hätte ich mit Sicherheit Regierungssysteme erwähnt, die ihre beabsichtigte Aufgabe nicht mehr erfüllten, und bestimmt auch, was wohlmeinende Außenstehende hofften und annähmen, dass sie tun würden.

Legt man diese letzteren Kriterien an, braucht man nicht länger nach Lateinamerika oder Afrika zu reisen, um staatliches Versagen aufzudecken. Tatsächlich sorgen sich viele von uns in Großbritannien, dass sich ein derartiges Versagen zunehmend innerhalb unserer eigenen Grenzen – die nach einem Brexit bald im Stau ersticken werden – und insbesondere in der Weise, wie das Land regiert wird, abzeichnet.

Großbritanniens in der Vergangenheit viel gepriesenes Regierungssystem beruht auf parlamentarischer Demokratie und jenen pluralistischen Institutionen, die man mit einer offenen Gesellschaft verbinden würde.

Die Wähler wählen die einzelnen Parlamentsabgeordneten aus, die ihren Wahlberechtigten ihr bestes Urteil darüber schuldig sind, wie man politisch schwierige Situationen bewältigt. Die Abgeordneten sind nicht verpflichtet, zu tun, was ein angeblicher Volkswille ihnen aufträgt – ein System, wie es Despoten und Demagogen schätzen. Stattdessen sind sie Teil eines Systems, das sich stark auf den konservativen politischen Philosophen Edmund Burke stützt, und nicht den französischen Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau. Wir haben stets Vorsicht, Kompromiss und eine evolutionäre Entwicklung der Destabilisierung und Appellen an flüchtige öffentliche Leidenschaften vorgezogen.

Die Parteien, denen die meisten britischen Abgeordneten angehören, repräsentieren unterschiedliche Meinungsstränge. Doch im Großen und Ganzen waren die Debatten zwischen ihnen durch eine starke Beziehung zwischen Beobachtungen und Behauptungen gekennzeichnet. Dabei wurden Tatsachen womöglich auf unterschiedliche Weise falsch interpretiert, doch sie wurden nicht einfach verleugnet, weil sie der vertretenen Ideologie widersprachen. Dogmatismus ist ein schlechter Bettgenosse der Demokratie. Man kann Expertenmeinungen natürlich in Frage stellen, doch bisher wurde Fachkompetenz nie als etwas angesehen, das das herrschende Establishment nutzen würde, um die Menschen damit in Verfolgung seiner Ziele zu verwirren und über den Tisch zu ziehen.

In Großbritannien ist die Regierung traditionell dem Parlament rechenschaftspflichtig, dessen Meinungen sie respektieren muss und dessen Konventionen sie folgen sollte. Und eine eigenständige, unabhängige Justiz garantiert die Rechtsstaatlichkeit, der alle, einschließlich der Minister, unterworfen sind.

Großbritannien hat seine nationalen Angelegenheiten bisher wie folgt geregelt: Es hat politischen Extremismus gemieden, ein sich selbst korrigierendes Gleichgewicht zwischen Links und Rechts erreicht, Veränderungen in Krieg und Frieden über Jahrzehnte hinweg gesteuert und den Übergang von einer imperialen Macht zu einem mittelgroßen europäischen Land vollzogen. Indem wir dies getan haben, ohne unsere Werte aufzugeben oder zu verwässern, haben wir in aller Welt Zustimmung und Anerkennung gewonnen.

Leider sehen die Dinge heute deutlich anders aus.

Als Anteil der Wahlberechtigten sind in Großbritannien heute weniger Menschen politisch aktiv als in den meisten anderen europäischen Ländern. Doch diese Aktivisten und sonstigen politischen Parteigänger haben in letzter Zeit zunehmend die Kontrolle über die politische Ausrichtung ihrer Parteien und die Wahl der Parteivorsitzenden übernommen.

Infolgedessen wird die Labour Party nun von Jeremy Corbyn, einem altmodischen, weit links stehenden Sozialisten, geführt.

Und 90.000 Mitglieder der Konservativen, deren Ansichten angesichts schrumpfender Zahlen extremer geworden sind, haben kürzlich Boris Johnsonzu ihrem neuen Parteivorsitzenden und damit zum neuen Premierminister des Landes gewählt.

Damit haben sie sich für einen verlogenen Opportunisten entschieden. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass Johnson sich nach oben gelogen hat – erst als Journalist und dann in der Politik. Seinen Aufstieg verdankt er allein der wachsenden Fremdenfeindlichkeit und dem zunehmenden englischen Nationalismus, dem sich viele Konservative nun verschrieben haben. Johnson ist Premierminister, weil er versprochen hat, bis Ende Oktober den Brexit herbeizuführen. Dabei hat er der Welt in unverantwortlicher Weise versichert, dass er das Vereinigte Königreich ungeachtet der Folgen mit oder ohne Austrittsvertrag aus der Europäischen Union herausziehen würde.

Johnson hat eine Regierung gleichgesinnter antieuropäischer Nationalisten ausgewählt. Sein wichtigster Berater Dominic Cummings wurde von David Cameron, dem britischen Premier der Jahre 2010-2016, als „Karrierepsychopath“ beschrieben. Cummings ist neben Johnson die mächtigste Figur in der neuen Regierung; er ist ein ungewählter Zerstörer, der Anfang dieses Jahres bereits wegen Missachtung des Parlaments gerügt wurde. Es ist deprimierend, aber passend, dass er nun unseren Abschied aus der EU mit oder ohne parlamentarische Zustimmung einfädelt.

Zudem schmiedet die Regierung Pläne, eine – noch nicht angekündigte – Wahl auf der Basis eines Wahlkampfes unter dem Motto „Das Volk gegen die Politiker“ zu gewinnen. Wer ein Ausscheiden aus der EU ohne Austrittsvertrag ablehnt, wird als Gegner der Volkssouveränität gebrandmarkt. So viel zur parlamentarischen Demokratie.

Die Regierung Johnson verleugnet die Wahrheit über die Folgen eines Brexits ohne Austrittsvertrag und verunglimpft jeden Versuch, auf diese hinzuweisen, als Angstmache. Der EU wird die Schuld für das Scheitern der Verhandlungen zugeschoben, obwohl dies fast völlig das Ergebnis von Entscheidungen der vorherigen britischen Regierung war. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wird der Bevölkerung weisgemacht, dass, wenn Großbritannien die EU überzeugen könne, dass es bereit sei, sich selbst mit einem vertragslosen Ausscheiden zu schaden, Frankreich, Deutschland und andere aufgeben und uns zugestehen werden, was wir wollen. Doch jeder Schaden, den ein Brexit ohne Austrittsvertrag der EU zufügt, verblasst gegenüber dem langfristigen Schaden, den er Großbritannien zufügt.

Johnson und Cummings sind bereit, all jene Methoden einzusetzen, die während der Kampagne im Rahmen des Brexit-Referendums 2016 erfolgreich waren, als man der britischen Bevölkerung versicherte, ein vertragsloser EU-Austritt käme nicht in Frage. Aus einem Finanzministerium, das nur allzu bald unter Geldmangel leiden wird, regnet es nun Versprechen über erhöhte öffentliche Ausgaben. Der Kurs des Pfundes sinkt, die Inflation ist im Juli gestiegen, und die Unternehmensinvestitionen stagnieren.

Von den vorgeblichen Vorteilen eines EU-Austritts ist keine Rede mehr, mit der Ausnahme eines versprochenen Handelsabkommens mit US-Präsident Donald Trump, das für den US-Kongress beinahe so unannehmbar wäre wie für die britische öffentliche Meinung. Zudem ignoriert die Regierung schlicht die Tatsache, dass auf ein vertragsloses Ausscheiden aus der EU unweigerlich langwierige Verhandlungen folgen werden.

Schlimmer noch ist, dass die Zukunft der Union zwischen England, Schottland, Wales und Nordirland zunehmend in Gefahr erscheint. Die Regierung weigert sich, anzuerkennen, dass die aus einem Austritt aus der EU-Zollunion resultierende Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland das Karfreitagsabkommen von 1998 gefährden wird, das der Insel 20 Jahre des Friedens beschert hat.

Handelt so ein erfolgreicher Staat? Wer diese Frage aufwirft, läuft Gefahr, als „Volksfeind“ tituliert zu werden. Wir sind in guter Gesellschaft: So bezeichneten die Brexit-Befürworter bereits drei hochrangige britische Richter, die für den Brexit-Prozess den Grundsatz der parlamentarischen Souveränität durchsetzten.

Angesichts eines immer näher kommenden Brexits sind Großbritanniens Institutionen, seine wirtschaftlichen Aussichten, seine Verfassung und seine Zukunft sämtlich in Gefahr. Doch die unverantwortliche Talfahrt in Richtung Selbsttäuschung und Lügen setzt sich ungebremst fort.

tagesspiegel


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