Isabel Hernández weiß kaum, wohin mit sich. Unruhig wartet sie darauf, dass ein Arzt der Augenabteilung mit ihr spricht. Eine Jurastudentin nimmt die Daten der 66-Jährigen auf - zur Sicherheit, damit der Fall ihres Sohnes nicht "verschwindet". Isabel Hernández scrollt auf ihrem Handy durch ihren Whatsapp-Chat, beschreibt der Fragenden den Vorabend so gut es gerade geht, erwähnt Zeiten, Sorgen, Gedankenfetzen. Einige Meter weiter dreht ihr Sohn Jimmy auf der Krankenliege leicht seinen Kopf nach links. Eines seiner Lider ist rötlich angeschwollen. Im Krankenhaus Del Salvador von Santiago wird der 44-Jährige womöglich erfahren, ob sein Auge zu retten ist.
Jimmy wollte abends nach der Arbeit im Zentrum von Santiago den Bus nach Hause nehmen; nah am zentralen Plaza Italia, wo seit einem Monat jeden Tag Straßenschlachten stattfinden, Tränengaswolken den Verkehr einhüllen, und Passanten den präsenten Polizisten ihre Vorwürfe entgegenschleudern: "Mörder", "Faschisten", "Folterknechte" und vieles mehr. Der 44-Jährige geriet in eine Auseinandersetzung von Demonstranten und der chilenischen Polizei. Eine Gruppe der Carabineros knüppelte ihn blutig, bis er nicht mehr laufen konnte. Unbekannte lasen den Schwerverletzten auf und legten ihn in der Nacht vor dessen Haus ab.
Seit einem Monat nun "verhandeln" die junge Generation der chilenischen Bevölkerung und die Politik die Zukunft des Landes auf der Straße - mit aller Gewalt, die ihnen zur Verfügung steht. Die Carabineros, die Polizei, spielt eine unrühmliche Hauptrolle der "sozialen Explosion", wie die Proteste in Chile genannt werden. Offiziell sind dabei bislang knapp zwei Dutzend Menschen ums Leben gekommen. Der bislang letzte Verstorbene war ein junger Mann, der schlicht nicht abtransportiert werden konnte. Die Polizei hatte die sichtbar markierten medizinischen Helfer mit Geschossen und Tränengas überzogen.
Die unter 30-Jährigen haben Augusto Pinochets Diktatur nicht miterlebt. Aber dass sie mit den Folgen leben sollen, der gleichen politisch-wirtschaftlichen Elite, die daran verdient, während der Rest buckelt, wollen sie nicht mehr akzeptieren. Sie fordern bezahlbare Bildung, Gesundheitsversorgung, Transport sowie Mindestlöhne und Renten über dem Existenzminimum. Seit Ausbruch der Proteste wurden in Krankenhäusern 2391 Verletzte registriert, alle wegen Tränengas, Gummigeschossen, Schrotkugeln oder "nicht identifizierten Feuerwaffen", meldet das chilenische Menschenrechtsinstitut INDH. Hinzu kommen Hunderte Foltervorwürfe und solche sexueller Gewalt an Minderjährigen.
Totenporträts an Hauswänden
Das INDH ist öffentlich finanziert und formal unabhängig, wird von anderen Menschenrechtlern aber trotzdem kritisch beobachtet. Institutsleiter Sergio Micco ist ein regierungsnaher konservativer Politiker. Die Einrichtung täte nicht mehr als sie müsse, heißt es von unterschiedlichen Seiten. Derzeit geben sich verschiedene internationale Menschenrechtskommissionen in Chile die Klinke in die Hand, um die Lage selbst zu bewerten. Ausgangspunkte für Untersuchungen sind in Santiagos Innenstadt überall zu finden; an mit Parolen besprühten Hauswänden hängen mitunter kopierte Porträts von Opfern der Polizeigewalt.
Den Zahlen des INDH zufolge hatten bis zum 18. November 222 Menschen ihr Augenlicht verloren oder lebenslange Verletzungen an ihren Augen davongetragen; die meisten davon durch Schüsse. Im Schnitt kämen pro Tag zehn Personen mit schweren Augenschäden hinzu, teilte die chilenische Ärzteinnung mit: "Wenn die Nutzung von Schrotkugeln ausgesetzt worden wäre, hätte sich die Zahl verringert." Das heißt auch: Sollte das Innenministerium eine entsprechende Anweisung gegeben haben, ist sie nicht befolgt worden.
Die Brutalität der chilenischen Polizei ist bekannt, aber von einer geschwächten Führung offensichtlich nicht im Zaum zu halten. Schon in den ersten Tagen der Proteste kursierten Videos von Polizisten, die gegen Demonstranten mit übermäßiger Gewalt vorgehen. Eine der Filmaufnahmen ist besonders extrem: Die Polizei fährt eine Straße entlang, ein Schuss ist zu hören, dann stürzt ein anscheinend lebloser Körper aus dem Fahrzeug.
Unter anderem wegen Korruptionsvorwürfen verließen allein in den vergangenen zwei Jahren rund 50 hochrangige Kommandeure die Carabineros. Ihr Chef General Mario Rozas steht erst seit Ende 2018 an der Spitze der fast 50.000 Polizisten. Als der Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte vor einigen Tagen einige derjenigen befragen wollte, denen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, verschickte ihr Chef eine unterstützende Videobotschaft, aus der das chilenische Investigativmedium ciperchile.cl zitiert: "Wir machen unsere Arbeit gut, wir sind Teil der Lösung", versichert Rozas. Es müssten lediglich die Protokolle über die Verwendung von Schusswaffen "angepasst" werden - damit die Polizei in ihrer Vorgehensweise nicht eingeschränkt werde.
Die Wurzel allen Übels
Der Wunsch nach Veränderung zieht sich durch die Breite der chilenischen Bevölkerung. In thematischen oder nachbarschaftlichen Treffen, sogenannten Cabildos, sitzen täglich verschiedene Generationen zusammen und diskutieren die Zukunft des Landes. Kernforderung ist eine verfassungsgebende Versammlung. Derzeit wollen mehr als 80 Prozent der Bevölkerung eine neue Verfassung, stellte das chilenische Umfrageinstitut Activa Research fest. Die derzeitigen Paragrafen, deren Urform in der Diktatur entstand, werden als Wurzel allen sozialen Übels und Ungleichheit angesehen. In Zahlen: Das reichste Prozent der chilenischen Bevölkerung besaß im Jahr 2017 rund ein Drittel des Gesamtvermögens, die oberen 20 Prozent insgesamt vier Fünftel. Die ärmere Hälfte aller Haushalte besitzt 2,1 Prozent.
Die Polizeigewalt verstärkt die Unzufriedenheit mit den sozialen Zuständen. Ein Einsatz vor zwei Wochen etwa sorgte für allgemeine Entrüstung: Ein Polizeikommando war in eine Sekundarschule eingedrungen, hatte mit Schrotgewehren auf minderjährige Mädchen geschossen und sie damit verletzt. In der Sekundarschule "Instituto Nacional", etwa 15 Gehminuten vom Plaza Italia entfernt, sind die Auseinandersetzungen zwischen Schülern und Staatsgewalt nichts Besonderes mehr. Monatelang rückten dort regelmäßig Polizisten unter Tränengaseinsatz ein, um Proteste zu beenden. Gasmasken gehörten zur Standardbestückung des Schulrucksacks. Das Unterrichtsjahr wurde vorzeitig beendet.
"Wir alle haben uns verändert"
Angesichts der andauernden Straßenschlachten bewegt sich der konservative Präsident Sebastián Piñera denkbar langsam, aber er bewegt sich. Scheibchenweise hat er in den vergangenen Wochen Reformen angekündigt, tauschte Teile seines Kabinetts aus, ignorierte aber die Rücktrittsforderungen von der Straße.
In einer Fernsehansprache am Sonntag sagte er beschwichtigend, die Regierung habe sich seit Beginn der Proteste verändert, "wir alle haben uns verändert". Zu den täglichen Menschenrechtsverletzungen äußerte er sich schwammig, nach Wochen des Schweigens. Auch das wird ein Grund sein, warum die derzeitige Zustimmung für ihn historisch niedrig ist. Der andere ist, dass Piñera zu Chiles Superreichen gehört und damit eben zu der Elite, gegen die sich auf den Straßen des Landes die Wut entlädt.
Der größte Erfolg der Demonstranten nach einem Monat der Proteste ist das Eingeständnis der Politik, beim Entwurf einer neuen Verfassung verzichtbar zu sein. Für kommenden April ist ein Plebiszit geplant, ob es eine neue Verfassung geben soll und ob auch Kongressmitglieder sie ausarbeiten. Das Misstrauen in der Bevölkerung ist groß: 63,5 Prozent der Chilenen wollen die Politiker nicht dabei haben.
Doch in fünf Monaten kann viel passieren, und sogar in Piñeras Partei "Renovación Nacionál" (RN), Nationale Erneuerung, ist offenbar die Zeit der Wahrheit gekommen. RN-Parteichef Mario Desbordes forderte die Bevölkerung auf, mit ihrem Druck von der Straße nicht nachzulassen: "Wenn die Menschen nicht aufmerksam sind (..) werden wir nichts verändern." Er warnte auch seine Kollegen: Wenn die Politiker immer nur aufs Geld schauten, "werden sie in sechs Monaten nicht einmal die Zeit haben es zu bereuen, weil sie keine Kontrolle mehr über den öffentlichen Haushalt haben werden".
Quelle: n-tv.de
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