Die ganze Nation, wenn nicht sogar die ganze Welt, blickt während der Corona-Pandemie auf Zahlen. Zunächst waren es die Fallzahlen, dann die Zahl der täglichen Neuinfektionen oder die Verdopplungszeit. Prominenz erlangte ab Mitte April eine zuvor noch wenig bekannte Kennzahl: die Reproduktionszahl. Sie wird auch als R-Wert wiedergegeben und soll eine einfache Einschätzung zum Trend der Pandemie ermöglichen. Bis heute ist der R-Wert in der Berichterstattung präsent - dabei ist er eigentlich nicht mehr wichtig.
Der R-Wert besagt, wie viele Menschen im Durchschnitt von einem mit Sars-CoV-2 Infizierten angesteckt werden. Bei einem R-Wert von 1,3 etwa stecken zehn Infizierte im Schnitt 13 Menschen an. Liegt der R-Wert bei 1, bleibt die Zahl der akut Infizierten konstant. Liegt er höher, nimmt sie zu, liegt er unter 1, sinkt die Zahl der Infizierten und die Pandemie läuft mit der Zeit aus. Um den R-Wert zu ermitteln, wird - vereinfacht gesagt - die Zahl der gemeldeten Corona-Fälle aus zwei aufeinanderfolgenden Vier-Tages-Zeiträumen miteinander verglichen. Der jeweils jüngste R-Wert bildet dabei das Infektionsgeschehen vor eineinhalb bis zwei Wochen ab.
In der Hochphase einer Pandemie können schon kleine Veränderungen im Nachkommabereich des R-Werts beträchtliche Auswirkungen haben, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel im April öffentlich vorrechnete: Aus damaliger Sicht konnte ein R-Wert von 1,2 oder 1,3 den Unterschied machen, ob das Gesundheitssystem Deutschlands im Juli oder schon im Juni überlastet sein wird. Mittlerweile ist klar: So wird es nicht kommen. Dennoch sorgt ein R-Wert über 1 immer noch für Schrecken.
Berliner R-Wert schnellt hoch
Erst Anfang Juni sprang der R-Wert deutschlandweit auf 1,2 - was in den Medien für Schlagzeilen sorgte wie "Reproduktionszahl kritisch". Einen Tag nach Pfingsten sorgte zudem der Anstieg des speziell für Berlin ermittelten R-Werts auf 1,95 für großes Medien-Echo - verstärkt durch Berichte über ausschweifende Partys in der Berliner Innenstadt am Wochenende zuvor. In sozialen Medien äußerten sich Nutzer entsprechend besorgt: "R-Wert in Deutschland steigt rapide - Hunderte feiern große Party in Berlin und, und..." schreibt eine Nutzerin. "Dass es ausgerechnet in Berlin zuerst wieder eskaliert mit dem R-Wert... ", zeigt sich ein anderer Twitter-Nutzer besorgt.
Doch ist die Sorge berechtigt? Nicht zwangsläufig. Denn der R-Wert hat isoliert betrachtet keine Aussagekraft, warnte bereits vor Wochen der Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler. Die Reproduktionszahl muss immer in Verbindung mit anderen Kennzahlen betrachtet werden, wie etwa der Zahl der Neuinfektionen. Nur wenn diese ebenfalls ansteigt, kann dies auf eine neue Infektionswelle hindeuten.
Zwar steigt in Berlin die Zahl der Neuinfektionen, Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci warnte daher schon vor einer "Trendwende". Doch der Wochendurchschnitt bei den Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner liegt in der Hauptstadt noch bei vergleichsweise niedrigen 5,1. Von den drei Berliner "Corona-Ampeln" stand vorübergehend daher auch nur eine auf Rot - die für den R-Wert. Erst wenn eine weitere Ampel auf Rot springt, will das Land wieder mit entsprechenden Maßnahmen reagieren. In ganz Deutschland hingegen ist die Zahl der Neuinfektionen weiter rückläufig. Der R-Wert büßt landesweit betrachtet daher auch immer mehr an Bedeutung ein.
Weniger Fälle, mehr Schwankungen
Aber warum schwankt der R-Wert so stark? Nur einen Tag nach dem Hoch des Berliner R-Werts sank dieser wieder von 1,95 auf 1,32. Auch deutschlandweit bewegt sich die Kennzahl von Tag zu Tag teilweise deutlich hoch und runter. "Je geringer die Fallzahlen, desto schwankungsanfälliger ist die geschätzte Reproduktionszahl", erklärt der Berliner Senat in einer Mitteilung. So gibt es in Berlin mittlerweile etwa nur noch rund 300 aktive Covid-19-Fälle - im Gegensatz zu fast 2000 in der ersten April-Hälfte.
Auch das RKI weist immer wieder darauf hin, dass "bei einer insgesamt kleineren Anzahl von Neuerkrankungen", der R-Wert "empfindlich auf kurzfristige Änderungen der Fallzahlen reagiere, wie sie etwa durch einzelne Ausbruchsgeschehen verursacht werden können". Seit Mitte Mai gibt das RKI daher auch ein sogenanntes 7-Tage-R an. Ein R-Wert, der sich auf einen längeren Zeitraum bezieht und daher weniger tagesaktuellen Schwankungen unterliegt.
Derzeit sollten kurzfristige Schwankungen des R-Werts also kein Grund zur Sorge sein. Ein echtes Warnsignal wäre dem RKI zufolge erst dann gegeben, wenn sich die Kennzahl über mehrere Tage hinweg deutlich über einem Wert von 1,0 bewegen sollte. Zuletzt lag sie aber wieder drei Tage in Folge deutlich darunter.
Quelle: ntv.de
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