Radikal richtig gemacht

  28 Juni 2020    Gelesen: 628
Radikal richtig gemacht

Wir mussten genau die Dinge vermeiden, die unser Leben eigentlich ausmachen - und das über Wochen. Warum der Lockdown eine echte Leistung war, auch wenn wir es gar nicht immer selbst gemerkt haben.

100 Tage ist es am kommenden Dienstag her, dass Deutschland das auf Eis legte, was wir bisher für Normalität gehalten hatten. Über Wochen schaute das Land täglich auf Fallzahlen, verglich Infektionskurven. Als es wieder Klopapier und Desinfektionsmittel gab, stellte sich die Frage: Woher eine Maske bekommen? Und wann trauen wir uns erstmals wieder zu Oma und Opa? Jetzt, im Sommer und trotz kritischem Reproduktionsfaktors R, erscheint diese Zeit der Sorge für viele weit weg, beinahe unwirklich.

Doch die Bilanz der ersten Welle lohnt, allein schon, um zu staunen, wie es uns gelungen ist, in radikaler Weise das zu verändern, was unser tägliches Leben sonst prägt: Kontakt mit anderen Menschen zu haben. "Im modernen Alltag treffen wir auf viele Personen, können an vielen Stellen der Gesellschaft andocken", sagt der Münchner Soziologe Armin Nassehi. Plötzlich waren wir zurückgeworfen - ganz auf uns selbst oder auf die Wenigen im eigenen Haushalt, und zwar permanent. "Dabei kommt innerhalb der Familie die Freude über die Anlässe, zu denen man sich intensiv erlebt, ja auch dadurch zustande, dass man zwischendurch viel Zeit woanders und mit anderen verbringt."

Die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt - gegen Kinder oder unter Partnern - stieg an, wie befürchtet. Doch die allermeisten Familien schafften es, unter schwierigen Bedingungen ihren Job weiterzumachen und den Schulunterricht für die Kinder teils komplett zu ersetzen. Fatal wirkte es sich aus, dass für das Lehrpersonal keine einheitlichen Standards gesetzt wurden. Während engagierte Lehrerinnen und Lehrer zu Hochform aufliefen und die Digitalisierung im Schulwesen in Eigenregie vollzogen, machten andere schlicht drei Monate frei.

Ohne Kontakte geht es nicht

Im Lockdown und der Kontaktsperre zeigte sich, wie abhängig wir von "unbedeutenden Kontakten" sind, so nennt es Nassehi, der an der Ludwig-Maximilians-Universität lehrt. Das moderne Leben sei von Kontakten geprägt, die beschränkt sind auf eine bestimmte Funktion und den Austausch bestimmter Informationen. "Von der Supermarktkassiererin möchte ich wissen, wie teuer mein Einkauf ist. Dem Taxifahrer sage ich, wo ich hin möchte, aber nicht, warum", erklärt Nasssehi. "Wir leben in einer Gesellschaft, die im Alltag gut damit fährt, dass wir uns gegenseitig für irrelevant halten. Aber nun haben wir gemerkt, wie relevant diese irrelevanten Kontakte für uns sind."

Wir sahen uns veranlasst zu Verhaltensweisen, die einem selbst in der Draufsicht als geradezu neurotisch erschienen. Wenn in 20 Meter Entfernung ein Entgegenkommender auf dem Fußweg erschien, begann manch einer schon damit auszuklügeln, ob es am geschätzten Ort des Aufeinandertreffens wohl mehr Ausweichmöglichkeit nach links oder nach rechts geben würde.

Doch auch, wenn die Kontaktsperre allein bereits eine Herausforderung war, zeigte die Infektionskurve bald, dass es sich gelohnt hatte, bei dem Beschluss der Einschränkungen nicht blind dem Beispiel anderer europäischer Staaten zu folgen, sondern jeden einzelnen Aspekt eines Lockdowns kritisch zu betrachten: Wäre es tatsächlich zielführend, wenn die Menschen wie in Italien, Spanien oder Frankreich kaum noch aus dem Haus gingen, und wenn ja, mit ausgefülltem Formular, das Grund und Ziel angibt? Reichte es nicht mit Blick auf die Übertragungswege, wenn alle darauf achteten, sich gegenseitig nicht zu nahe zu kommen? Allein die Jahreszeit spielte Deutschland bereits in die Hände und machte es in den ersten Wochen einfacher, sich nicht zu häufig mit zu vielen in Parks und Innenstädten zu tummeln. Auch wenn es immer wieder Ansammlungen gab - viele Leute reagierten sensibel und überlegt und nutzten die Bewegungsfreiheit, um sich Ziele zu suchen, die nicht überlaufen sein würden. So hat Deutschland die Zahl der Infektionen kraftvoll nach unten gedrückt, ohne die drastischen Einschränkungen anderer Länder zu kopieren.

Politik passt sich an Meinung an

In den lokalen Infektionsgeschehen können die dortigen Entscheider nun schon aus den Erkenntnissen der ersten Welle profitieren. So ist in den Kreisen Gütersloh und Warendorf der Einzelhandel vom Lockdown verschont geblieben. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Gefahr gering ist, sich in so kurzen Begegnungen wie beim Einkauf anzustecken, wenn alle eine Maske nutzen. In der Regionalisierung des Kampfes gegen die Pandemie sieht Nassehi auch den Versuch der Politik, sich an die öffentliche Meinung anzupassen. "Das hört sich negativ an, aber man kann nur so viel Macht ausüben, wie diejenigen, über die Macht ausgeübt wird, auch als Legitimation wieder zurückgeben", sagt Nassehi. "Sonst wird es schwierig."

Entscheidend sei demnach, ob man die Regeln für legitim hält. "Selbst wenn wir merken, dass der Staat die Einhaltung durchsetzt, halten wir uns selbst an die Regeln nur dann, wenn wir sie einigermaßen plausibel finden", sagt Nassehi. "Wäre das nicht der Fall, würde man sich auch nicht darum scheren, dass womöglich Strafen ausgesprochen werden." Das spricht dafür, dass am Lockdown für den einzelnen weniger wichtig war, dass man nun Ärger fürchten musste, falls man die neuen Regeln übertritt. Entscheidender war demnach die Gewissheit, dass sich nun alle dran halten würden und damit ein tatsächlicher Effekt einsetzt, die Maßnahme also plausibel wurde.

Wir trotzten erfolgreich der "Infodemie", vor der die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits im Februar warnte. Und tatsächlich verbreiteten sich in Netzwerken recht schnell Theorien, die Corona mal als eine Erfindung der Regierung entlarvten, die damit eine Impfpflicht und allerlei antidemokratische Gesetze durchsetzen wolle. Mal wurde die Pandemie der Pharmaindustrie zur Mehrung ihrer Profite zugeschrieben oder auch Bill Gates auf dem Weg die Weltherrschaft zu übernehmen. Auf den sogenannten Hygiene-Demos wurde legitime Kritik am Lockdown von schrillen und oftmals rechten Parolen übertönt. Doch parallel dazu stieg die Unterstützung für die Bundesregierung in den Umfragen stetig an, kam die Union und mit ihr Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Traumwerte von 40 Prozent Unterstützung.

Protest sagt, das ist falsch gewesen

"Protest ist immer eine starke Vereinfachung der Zusammenhänge", sagt Armin Nassehi. "Man protestiert ja nicht, um zu sagen, ich hätte hier vielleicht sieben Prozent weniger gemacht, und dort hätte ich überlegt, ob man nicht vielleicht mal… Protest sagt, das ist falsch gewesen." Die inhaltliche Debatte dahinter, die beim - wieder geöffneten - Friseur oder via Skype mit der Verwandtschaft geführt wurde, musste die Demokratie aushalten. Denn über die gesamte Dauer des Lockdowns verschwand nur bei wenigen der Eindruck, dass man privat deutlich mehr Menschen kannte, die unter den Schließungen und ihren Folgen litten als unter einer Corona-Infektion.

"Die Kritik tat allerdings oft so, als seien wir vor dem Lockdown alle vollkommen frei gewesen. Ein ganz normaler Alltag in einer deutschen Großstadt ist aber vollständig durchreguliert. Diese Regelhaftigkeit ist uns so in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir das zum Teil gar nicht merken", so Nassehi. Dennoch verlangte es ein hohes Maß an Vertrauen und einen langen Atem, sich gegen den manchmal geradezu unsichtbar erscheinenden Gegner weiter zur Wehr zu setzen, einzig bestätigt durch Berichte aus anderen Ländern und die Entwicklung der Fallzahlen in Deutschland.

"Natürlich hat das an manchen Stellen geknirscht", bilanziert Nassehi. "Und es hört sich für einen Soziologen immer besser an, wenn man sagt, es sei alles schlecht gewesen und dann die Gründe zu nennen. Aber aus meiner Sicht haben wir das recht gut hingekriegt."

Quelle: ntv.de


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