Pathos und die Sehnsucht nach dem letzten großen Schlussakkord sind Angela Merkel ziemlich fremd, und nein, sie wird sich nicht neu erfinden, wie es jetzt vielfach hieß. Merkels roter Faden beim Regieren ist … das Regieren selbst. Auf Europa gemünzt hieß das 15 Jahre lang: Wenn Krise ist, nehmen die Nationalstaaten das Steuer allein in die Hand, die EU-Kommission darf assistieren.
Größere Schritte in Richtung "mehr Europa", in Richtung Integration und zunehmender Staatlichkeit der Brüsseler Instanzen? Die hat Merkel immer gescheut, weil sie ihrer notorisch skeptischen Europa-Maxime treu blieb: Wenn ein Nationalstaat ein Problem hat, kann das wegen der Vernetzung über Binnenmarkt und Euro durchaus viele EU-Mitglieder betreffen. Trotzdem kommt die Lösung nicht aus Brüssel von der EU, sondern, wenn überhaupt, vom betroffenen Nationalstaat und seiner Regierung selbst. Anders, "europäischer", hat Angela Merkel nur gehandelt, wenn es absolut unabweisbar schien. In ihren Worten: "alternativlos".
Das war so während ihrer ersten EU-Ratspräsidentschaft 2007: Die weitreichende EU-Verfassung war gerade in zwei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheitert, die EU steckte in der Sinnkrise. Merkel setzte binnen sechs Monaten pragmatische Abstriche durch. Der weniger ambitioniert betitelte "Vertrag von Lissabon" brachte dennoch an vielen Stellen eine Vertiefung der EU-Integration. Er wurde die neue Geschäftsgrundlage der Europäischen Union und ist es bis heute. Nur einmal noch, nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09, sah Merkel sich "alternativlos" zu einer größeren Kompetenzverlagerung in Richtung Brüssel genötigt: Der Euro-Rettungsschirm EMS, die Bankenunion und die europäisch-gemeinschaftliche Aufsicht über die großen, "systemrelevanten" Geldhäuser kamen auf den Weg.
Die "rote Linie" überschritten
An Merkels Linie hätte sich auch in den kommenden sechs Monaten nicht viel geändert, das Programm der deutschen Ratspräsidentschaft stand fest, und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron hätte sich mit seinen viel weiter reichenden Europa-Plänen ein letztes Mal an Merkels zähem Widerstand festgelaufen.
Das wird nun anders, weil es anders nicht geht, wie die deutsche Kanzlerin inzwischen glaubt, und vermutlich hat sie recht. Die Corona-Pandemie ist wie eine Naturkatastrophe über die Welt und Europa gekommen, die Aufräumarbeiten werden teuer. Bestimmten Euro-Staaten in der Vergangenheit Finanzhilfen zu verweigern, weil sie zum Beispiel ihr Rentensystem nicht im Griff haben oder anhaltend über ihre Verhältnisse leben - das ist das eine, und Merkel war es egal, in diesen Ländern sehr unbeliebt zu sein. Aber anderen Euro-Staaten Finanzhilfen zu verweigern, wenn sie unverschuldet in existenzielle Not geraten - das ist etwas anderes. Das kann erst den Euro zerreißen und dann den Rest der EU.
Die Kanzlerin hat darum eine ihrer wenigen "roten Linien" überschritten, sie wirbt nun für gemeinschaftlich verbürgte Schulden, welche erstmals die EU-Kommission aufnimmt, mindestens 500 Milliarden Euro. Das ist ein Tabubruch, der bald auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigen dürfte. Ob die Deutschen und einige andere Zahler-Nationen ihren Frieden mit den teuren Plänen machen werden, ist offen. Es wird besonders von Angela Merkel abhängen und von der Frage, ob eine Mehrheit ihr ein letztes Mal die "Alternativlosigkeit" abnimmt, die sie ins Feld führt. In der Flüchtlingskrise 2015/16 ist ihr das nicht gelungen. Das hängt der Kanzlerin bis heute nach.
Paradox: Wie man nach der nächsten Bundestagswahl erleben wird, ist Angela Merkel für Deutschland keineswegs "alternativlos". Aber ein funktionierendes Europa ist es sehr wohl. Helmut Kohl hat so den Euro durchgesetzt, Angela Merkel wird ihn so retten müssen.
Quelle: ntv.de
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