Triumph auf blanken Sohlen

  10 September 2020    Gelesen: 828
Triumph auf blanken Sohlen

Als erster Äthiopier lief Abebe Bikila vor 60 Jahren zu Marathongold - ohne Schuhe. Sein Olympiasieg in Rom, voll politischer Symbolik, war der Start in eine neue Ära. Und rettete ihm selbst das Leben.

Dicht an dicht drängen sich die Athleten in der Nachmittagshitze. Einige scherzen miteinander, andere blicken starr geradeaus. Unbeachtet bleibt der hagere Mann im grünen Trikot mit der Nummer 11. Ein Konkurrent kann er kaum sein - er trägt ja nicht einmal Schuhe.

Nur ein einziges zerschlissenes Paar hat Abebe Bikila aus Äthiopien zu den Olympischen Sommerspielen nach Rom 1960 mitgenommen. Da er auch dort kein neues Paar fand, das ihm passte, entschied er sich, barfuß zu laufen, so wie er es von Kindesbeinen an gewohnt ist. Es hat etwas Archaisches und passt zu diesen Spielen mit Relikten des antiken Roms als Wettkampfstätten: Die Ringer messen sich in der Ruine der Maxentiusbasilika, die Turner wirbeln durch die Caracalla-Thermen, und die Marathonläufer starten auf dem Kapitolsplatz am Fuße der Mark-Aurel-Reiterstatue. Von dort geht es über den Viale Cristofero Colombo und die Via Appia Antica zum Konstantinsbogen.

Bikila läuft erst seit wenigen Jahren Marathon. Mitte der Fünfzigerjahre hat ihn der finnisch-schwedische Leichtathletiktrainer Onni Niskanen in der Leibgarde von Kaiser Haile Selassie entdeckt. Und nun steht dieser 28-jährige Soldat barfuß in der Stadt, von der einst zwei Kriege gegen sein Heimatland ausgingen. 1896, beim ersten Eroberungsversuch, schlugen abessinische Truppen Italiens Armee zurück und bewahrten die Unabhängigkeit. 1935 griffen Mussolinis Männer mit Giftgas an und besetzten das ostafrikanische Land sechs Jahre lang. Als Kriegsbeute ließ der "Duce" eine antike, 24 Meter hohe Granitstele nach Rom bringen, den Obelisken von Axum.

Das faschistische Regime ist längst untergegangen, der Obelisk noch da. Daran kommt Bikila an diesem 10. September 1960 zweimal vorbei. Früh gehört er zu einer sechsköpfigen Ausreißergruppe. Einer nach dem anderen fällt zurück, Bikila aber läuft scheinbar ohne Anstrengung, wie schwerelos. Jetzt fragen sich auch die Kommentatoren, wer dieser Äthiopier ist, der mit kleinen, schnellen Schritten auf blanken Sohlen voraneilt.

"Das war kein Marathon, es war Aida"
Als Bikila mit Marathon anfing, war Äthiopien noch längst keine Läufernation, wie Katrin Bromber erklärt. Die Afrikawissenschaftlerin vom Leibniz-Zentrum Moderner Orient in Berlin forscht zur Sozialgeschichte des Sports in Äthiopien. "Während Boxen, Radrennen, Gewichtheben, Tischtennis oder Ballsportarten bereits fest zum Repertoire gehörten, fand der erste Marathon des Landes erst im Mai 1954 statt", sagt Bromber.

Bloß eine Handvoll Athleten trat an, zwei Jahre später waren es 15. Die Siegerzeit lag bei 2:45 Stunden und damit fast eine halbe Stunde über dem damaligen Weltrekord. Da sie aber auf über 2000 Metern Höhe erzielt wurde, mutmaßte die Zeitung "Ethiopian Herald" 1956: "Mit entsprechendem Training und mehr Erfahrung bei Straßenrennen können wir uns gewiss auf einen internationalen Marathonsieg freuen."

Vier Jahre später scheint dieser Sieg so nah. In der Dämmerung läuft Bikila mit seinem letzten Verfolger, dem Marokkaner Rhadi Ben Abdesselam, auf die Via Appia zu. Zwei dünne Schatten, die - vorbei an Hunderten von Fackelträgern – übers antike Pflaster huschen. "Es war kein Marathon", schreibt später die Zeitung "Corriere della Sera", "es war Aida, und der römische Straßenrand bildete den Chor."

Kaum haben sie zum zweiten Mal den Obelisken passiert, fällt auch Ben Abdesselam zurück. Bikila läuft dem Konstantinsbogen entgegen, der sich hell erleuchtet gegen den Nachthimmel abzeichnet. Nach 2:15:16 Stunden überquert er in neuer Weltbestzeit die Ziellinie und hebt kurz den rechten Arm. Während er sich unter dem Triumphbogen dehnt, als käme er gerade vom Feierabendlauf, verbreitet sich die Kunde über die Rundfunkapparate in alle Welt: Ein barfüßiger Äthiopier triumphiert bei Olympia in Rom.

1960 war das "Afrikanische Jahr"
"Aufgrund der Kolonialvergangenheit hatte dieser Sieg große Symbolkraft", sagt Ansgar Molzberger, Sporthistoriker an der Kölner Sporthochschule. "Obwohl Bikila es in Interviews nie besonders herausgestellt hat, war die Botschaft doch klar: 'Ich gewinne hier auf euren Straßen, selbst ohne Schuhe' - im Grunde eine Demütigung der ehemaligen Unterdrücker." Die Zuschauer staunten fasziniert.

Bikila ist der erste afrikanische Olympiasieger, der südlich der Sahara geboren wurde. Sein Barfuß-Sieg ist eine sportliche Sensation – und hat etwas fast Prophetisches. Denn in die Geschichte geht das Jahr 1960 später als das "Afrikanische Jahr" ein, in dem 18 afrikanische Staaten die Ketten des Kolonialismus abwarfen und ihre Unabhängigkeit erlangten. Und zugleich begann mit Abebe Bikila die Erfolgsära ostafrikanischer Langstreckenläufer.

Damals war Laufen – zumindest in Äthiopien – noch längst nicht die Massensportart wie heute, weiß Katrin Bromber. Für die Staatsmacht habe es aber den erhofften Prestigegewinn gebracht. "Kaiser Haile Selassie hatte sehr früh die Bedeutung des Sports für die Erziehung der Jugend, vor allem aber für die Anerkennung Äthiopiens als modernen Staat erkannt", sagt die Forscherin. "Bikilas Erfolg hob in allererster Linie das Selbstwertgefühl des Kaisers und all jener Beamte und Sportfunktionäre, die Äthiopien auf der internationalen Bühne auch durch sportliche Erfolge verankern wollten. Während des Kalten Krieges und der Unabhängigkeitswelle auf dem afrikanischen Kontinent war das ein ganz wichtiger Faktor."

Was bei den Menschen in Äthiopien ankam, lässt sich laut Bromber schwer sagen: "Radios waren selten, Fernsehen gab es noch nicht. Über 90 Prozent der Bevölkerung lebten damals auf dem Land, die meisten waren Analphabeten und hatten sicher andere Sorgen als sportliche Erfolge zu feiern." Bikila selbst habe sein Olympiasieg allerdings das Leben gerettet. "Als Angehöriger der Imperial Body Guard war er direkt am gewaltsamen Umsturzversuch im Dezember 1960 beteiligt", sagt Bromber. "Statt ihn, wie viele andere, hinrichten zu lassen, begnadigte ihn der Kaiser."

spiegel


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