Warum geht das Sterben in der Ukraine weiter?

  16 März 2016    Gelesen: 1789
Warum geht das Sterben in der Ukraine weiter?
Im Osten der Ukraine sterben nach wie vor Woche für Woche Männer, Frauen und Kinder. Trotz eines Waffenstillstandsabkommens, das die OSZE überwachen soll. Warum das so ist, erklärt der stellvertretende Leiter der Mission.
Wenn Alexander Hug, der stellvertretende Chef der OSZE-Beobachtermission in der Ukraine, sich beim Interview vorbeugt, wenn er die Löffel und Zuckertüten aneinanderreiht und dann die Servietten quer über die Linien ordnet, entsteht auf dem Kaffeetisch eines Berliner Hotelfoyers das Bild des Krieges. Eine Tasse: Donezk, die Hauptstadt der Separatisten. Eine Gabel: die „Kontaktlinie“, die Front. Eine Untertasse: die Regierungstruppen. Und dann hier, hier und hier: die Städte und Dörfer, wo sie immer noch schießen – jeden Tag, jede Nacht.

Das Kriegsgebiet im Osten der Ukraine, wo ukrainische Regierungstruppen, russische Interventionseinheiten sowie deren örtliche Helfer seit dem Frühjahr 2014 praktisch ohne Unterlass aufeinander geschossen haben, ist zuletzt aus den Schlagzeilen verschwunden. Nicht dass Frieden eingekehrt wäre. Die Verhandlungen der Kriegsparteien – hier der Ukraine, dort Russlands und der Separatisten – über einen Waffenstillstand und eine „politische Lösung“ samt Wahlen und Autonomiestatus stagnieren seit Monaten. Nach wie vor sterben Woche für Woche Männer, Frauen und Kinder, nach wie vor stehen im früher pulsierenden Bergbau- und Stahlrevier um die Millionenstadt Donezk praktisch alle Räder still. Die Stahlwerke fahren auf Minimalbetrieb, manche Gruben laufen voll Wasser, mittlerweile sind nach dem jüngsten Bericht der Vereinten Nationen mehr als 21.000 Menschen verletzt worden, mehr als 9000 wurden getötet. Der unbesetzte Teil der Ukraine hat etwa anderthalb Millionen Binnenflüchtlinge aufnehmen müssen – mehr als Deutschland seit dem Beginn der europäischen Migrationskrise.

Gegenseitige Beschuldigungen

Wer ist schuld an alldem? Die Ukrainer, sagen die Russen, denn sie sabotieren jenen „politischen Prozess“ samt „Wahlen“ und „Sonderstatus“, den die Präsidenten Frankreichs, Russlands und der Ukraine zusammen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Februar 2015 in Minsk vereinbart haben. Die Russen, sagen die Ukrainer, denn wie soll man „unter den Kalaschnikows“ der Besatzer freie Wahlen abhalten? Wie soll ein politischer Prozess beginnen, wenn der Feind im eigenen Land immer noch täglich den Waffenstillstand bricht?

Hug schiebt zwei Zuckertüten ganz eng aneinander und zögert. Er ist operativer Kopf der OSZE-Beobachtermission in der Ukraine und damit derjenige, der am besten wissen müsste, wer recht hat in diesem Wettlauf der Beschuldigungen. Seine unbewaffneten Trupps mit ihren blauen Helmen und ihren weißen Geländewagen fahren täglich über die „Kontaktlinie“, zählen Explosionen, sprechen mit Kämpfern, Dorfbewohnern, Offizieren. „Wissen Sie“, sagt er schließlich, „wir sind Beobachter, keine Geheimdienstleute.“ Die OSZE registriert, wo sie Schüsse hört, aber sie kann oft nur vermuten, wer sie abgefeuert hat. Gewiss ist selten etwas, und so lässt sie sich in ihren Berichten kaum je darauf ein, klar zu sagen, welche der Seiten im Einzelfall der Urheber welcher Detonation war.

Übergriffe durch Separatisten
„Tatsache aber ist“, und hier legt Hug entschlossen je einen Zeigefinger auf die beiden Tüten: „Die beiden Seiten stehen viel zu eng beieinander.“ Oft trennten nur fünfzig Meter die Linien der Ukrainer und der prorussischen Kämpfer, vor allem in dem weiten Halbkreis westlich, nördlich und südlich der von den Ukrainern halb umstellten Separatistenhochburg Donezk, sowie nahe an Mariupol, dem wichtigen Hafen am Schwarzen Meer. Es sei zwar vereinbart, in der „Sicherheitszone“ beiderseits der „Minsker Kontaktlinie“ alle Truppenbewegungen einzufrieren, aber niemand halte sich daran. Immer wieder würden einzelne Dörfer überraschend genommen, mal von dieser Seite, mal von der anderen. Die Gründe könnten vielfältig sein. Möglicherweise schickten die Führungen leichter bewaffnete Einheiten ins Niemandsland vor, um den vereinbarten Abzug schwerer Waffen zu kompensieren, manchmal behaupteten sie, sie kämen auf Bitten der Bewohner, um „Ordnung“ zu schaffen. Dann kämen die Feinde sich manchmal so nahe, dass gewissermaßen „von selbst“ ein Gefecht beginne. „Das fängt dann mit ein paar Gewehrschüssen an, und eskaliert binnen Minuten zum Artillerieduell“, sagt Hug. Im Februar sei das besonders arg gewesen, da hätten seine Beobachter bis zu tausend Explosionen und Gewehrsalven am Tag gehört. Jetzt sei es wieder ein wenig ruhiger – 500 Ereignisse pro Tag.

So wenig Hug, ein Schweizer Diplomat mit Erfahrung in Bosnien, im Kosovo und in Hebron, sich festlegen will, wo es um die Schuld an den konkreten Gefechten geht, so klar ist er bei einem anderen Aspekt. Seine Beobachter, die den Waffenstillstand, den vereinbarten Abzug schwerer Waffen sowie den mutmaßlichen Zustrom von Kämpfern aus Russland kontrollieren sollen, werden immer wieder behindert, und hier sei die Verantwortung eindeutig: „Zu 85 bis 90 Prozent“ seien an solchen Übergriffen die Separatisten schuld. Vor allem zur russisch-ukrainischen Grenze, über die nach Kiewer Darstellung permanent Kämpfer und Waffen für die Separatisten nachströmen, bekämen seine Leute nur nach Voranmeldung Zutritt. „Da ist etwas, was sie uns nicht sehen lassen wollen“, folgert der Schweizer. „Und wenn wir dann doch mal zur Grenze gelassen werden, ist immer alles schon vorbereitet. Höchstens ein paar Spuren von Kettenfahrzeugen kann man dann noch am Grenzstreifen sehen.“

Ist die russische Armee im Donbass?

Noch klarer ist die Lage, wo Beobachter bedroht oder eingeschüchtert werden. Solche Übergriffe kommen Hug zufolge „ausschließlich“ von Seiten der Separatisten, und in einem Fall hätten betrunkene „Kosaken“ im Gebiet Luhansk sich sogar einen Spaß daraus gemacht, unmittelbar neben den Köpfen einer Beobachtergruppe ein paar Pistolenkugeln in die Wand zu feuern. Bei den Ukrainern gebe es so etwas nicht, und auch von den einstigen „Freiwilligenbataillonen“ der Kiewer Seite, die früher immer wieder die Disziplin verletzt hätten, seien zuletzt keine Störungen mehr gekommen.

Es sind also die Separatisten, die die OSZE behindern, und die Frage ist: Wer steht hinter ihnen? Gibt es sie tatsächlich, die viele tausend Mann starke russische Streitmacht im Industrierevier Donbass, deren Existenz Kiew seit Jahren behauptet, während Moskau sie beharrlich leugnet? Selbst der russische Präsident Putin hat nie bestritten, dass russische Kämpfer „privat“ immer wieder an den Kämpfen teilnehmen, nur dass „reguläre“ Einheiten dabei seien, hat er stets zurückgewiesen. Was also sind die Tatsachen aus der Sicht der Beobachter? „Unsere Leute sehen immer wieder Uniformierte mit russischen Hoheitszeichen“, sagt Hug trocken, und die Drohnen der OSZE über dem Gebiet der Separatisten beobachteten immer wieder Kolonnen von Haubitzen, Panzern, Mehrfachraketenwerfern – unterwegs „von Ost nach West“ also von der russischen Grenze an die Front.

Er habe selbst mit Gefangenen der Ukrainer gesprochen, die sich als russische Soldaten zu erkennen gegeben und berichtet hätten, sie seien als solche „mehrmals“ in der Ukraine eingesetzt worden. Im Separatistengebiet gebe es außerdem überall „sehr gut organisierte Truppenübungsplätze“. Reguläre russische Armee oder „private“ Kämpfer? „Da müssen andere ihre Folgerungen ziehen“, sagt Hug. „Wir sind eine Beobachtermission, kein Geheimdienst.“

Quelle- faz.net

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