Obwohl eine Massenlieferung an den europäischen Markt erst im dritten Quartal zu erwarten wäre, setzen auch in Deutschland immer mehr Politiker auf den russischen Impfstoff Sputnik V. Dabei hat das Vakzin, das wie Astrazeneca ein Vektorimpfstoff ist, weiterhin keine Zulassung durch die Europäische Arzneimittelbehörde EMA. Die EMA hatte Anfang März ein rollendes Zulassungsverfahren für Sputnik V gestartet. Doch um bei der EU-Kommission eine Zulassung für den europäischen Markt zu beantragen, liegen der EMA nach eigenen Angaben noch immer nicht genug Daten vor. Möglich auch, dass die vorliegenden Daten aus Russland Fragen aufwerfen. Fragen hat auch ein ganzes Bündnis kritischer Wissenschaftler, die sich mit ihren Sorgen an die Öffentlichkeit gewandt haben.
In einem bereits am Dienstag von der britischen medizinischen Fachzeitschrift "The BMJ" veröffentlichten Brief stellen die Wissenschaftler Florian Naudet, Enrico Bucci und weitere Forscher Auffälligkeiten in den Wirksamkeitsnachweisen der russischen Wissenschaftler fest. Es handelt sich bei den Kritikern nicht um Impfstoffforscher, sondern um Mediziner mit verschiedenen Schwerpunktthemen, die sich kritisch mit den vorgelegten Datensätzen zu den verschiedenen Testphasen auseinandergesetzt haben. Im Zentrum steht die Analyse statistischer Auffälligkeiten und die Nachvollziehbarkeit von aus den Daten gezogenen Schlüssen.
Verdacht schon in Testphasen I und II
Die Auffälligkeiten sind demnach zahlreich, wobei sich diese Feststellung ausschließlich auf die aus Russland bereitgestellten Analysen bezieht. Die vollständigen Datensätze zu den verschiedenen Testphasen des am staatlichen Gamaleja-Forschungszentrum für Epidemiologie und Mikrobiologie in Moskau entwickelten Impfstoffs sind bislang nicht veröffentlicht worden; nur deren Auswertung. Da stellen Naudet und seine Mitstreiter immer wieder Werte fest, die nicht mit den Erfahrungen und Wahrscheinlichkeiten eines normalen Feldversuchs mit einem Medikament in Übereinstimmung zu bringen seien.
Erste Zweifel hatte das Forscher-Kollektiv bereits im vergangenen September geäußert, als es um die Ergebnisse der Testphasen I und II mit vergleichsweise kleinen Probanden-Gruppen ging. So wiesen damals etwa neun Probanden, die eine bestimmte Version des Impfstoffs verabreicht bekamen, nach 21 und 28 Tagen jeweils den exakt selben Antikörper-Wert auf. Das gleiche geschah angeblich bei sieben von neun Probanden einer anderen Wirkstoff-Version. In weiteren voneinander getrennten Beobachtungen wiederholen sich die angeblich gemessenen Werte ebenfalls.
Noch unwahrscheinlicher sind demnach die Daten zur Zellproliferation, bei der es um die Vermehrung neuer Zellen geht. Dass die im September vorgelegten Daten erneut sich wiederholende Muster bei unterschiedlichen Probanden, Wirkstoffvarianten und Zeitpunkten aufzeigen, passt den kritischen Wissenschaftlern zufolge nicht zur natürlichen Zellvermehrung. Auch die Werte zur Antikörperbildung gegen die im Impfstoff enthaltenen Adenoviren wiesen demnach sich wiederholende Muster auf, obwohl sie bei unterschiedlichen Probanden mit unterschiedlichen Wirkstoffvarianten festgestellt worden sein sollen. Schon damals forderten die Wissenschaftler vergeblich umfassendere Daten aus Russland.
"Unwahrscheinliche hohe Homogenität"
Ein in der Fachzeitschrift "Lancet" erschienener Artikel zur dritten Testphase von Sputnik V hatte dem Impfstoff Anfang Februar internationale Anerkennung verschafft und auch das Vertrauen der russischen Bevölkerung in den eigenen Impfstoff gestärkt. Doch erneut kommen Naudet, Bucci und ihre Kollegen zu dem Schluss, dass die Daten auffällig seien. Allerdings betreffen diesmal die sich wiederholenden Wertemuster die Wirksamkeit des Impfstoffes über alle Altersgruppen hinweg.
Weitere Auffälligkeiten betreffen die generelle Wirksamkeit des Impfstoffs. Der Hersteller hatte im Winter drei Pressemitteilungen zu Zwischenauswertungen der dritten Testphase veröffentlicht: am 11. November, am 24. November und am 14. Dezember. In allen drei Pressemitteilungen sowie in der "Lancet"-Auswertung liegt die Wirksamkeit von Sputnik V bei 91 und 92 Prozent. Der Anteil an Erkrankten in den Gruppen der Geimpften und der Kontrollgruppe fällt zur Überraschung von Naudet und Kollegen immer gleich aus - und das bei einer fünfstelligen Zahl an Studienteilnehmern.
So kommen Naudet und seine Mitstreiter zu dem Schluss: "Die ungewöhnliche und unwahrscheinliche hohe Homogenität der Impfstoffwirksamkeit über Altersschichten und verschiedene Zwischenanalysen hinweg gibt Anlass zu Bedenken hinsichtlich der berichteten Daten." Am 12. März haben Naudet und Co. ihre Bedenken der EMA mitgeteilt und auch "Lancet" plant Naudet zufolge eine Veröffentlichung dieser Bedenken - allerdings unter Ausklammerung der Pressemitteilungen, weil die auch nicht Thema im ersten "Lancet"-Artikel zur Phase-III-Studie waren.
Kampf um die Öffentlichkeit
Was die Kritik für die weitere Anwendung von Sputnik V in der EU bedeutet ist unklar. Die Slowakei, die das Mittel auf eigene Faust verspritzt, veröffentlichte Beschwerden über die gelieferten Dosen. Sie seien nicht in allen Details identisch mit den zuvor in der Fachzeitschrift "Lancet" Beschriebenen. Das "Handelsblatt" zitiert Milan Nic von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik damit, dass Ungarn, das als erstes EU-Land eine Notzulassung für Sputnik V erteilt hatte, seine Dosen nicht komplett verimpft habe. "Die Ungarn sind vorsichtig mit diesem Impfstoff, und genauso vorsichtig sind sie mit ihrer Kritik daran", sagte Nic demnach.
Für Aufsehen sorgt auch ein Artikel der "Financial Times", wonach Teilnehmer der Sputnik-Studie teilweise unter Druck gesetzt worden sein sollen. Jeder kritische Bericht ist von Bedeutung, schließlich ist der Impfstoff längst ein diplomatischer Hebel des Kreml - zum Verdruss mancher Europäer. Auf dem eigens aufgesetzten Twitter-Kanal warfen die Sputnik-Hersteller der "Financial Times" Fake News vor. Auf die Kritik von Naudet und Kollegen reagierte der Account bislang nicht.
Quelle: ntv.de
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