Nio ET5 - chinesisches Auto mit fast europäischem Standard

  05 Mai 2023    Gelesen: 805
  Nio ET5 - chinesisches Auto mit fast europäischem Standard

Chinesische Autos scheinen sich in puncto Design und Qualität europäischen Standards anzunähern - und zwar rasend schnell. Doch ist das wirklich so? ntv.de hat der Mittelklasse namens ET5 auf den Zahn gefühlt.

Lassen Sie mal Passanten raten, was da wohl für ein Auto am Straßenrand steht. Die zu ersten Testfahrten eingeladenen Journalisten wissen es, der eine oder andere Autonerd auch. Natürlich, ein Nio ET5. Die Autos parken vor der Eventlocation nahe der Düsseldorfer Innenstadt. Fußgänger ziehen vorüber, taxieren die unbekannte Karosse mit neugierigen Blicken.

Keine Chance, die meisten Leute kommen nicht drauf. Ein kleines bisschen Porsche Taycan steckt im ET5 genauso wie ein Schuss Hyundai Ioniq 6. Den Koreanern traut man wertig aussehende Fahrzeuge mittlerweile zu, aber chinesischen Marken noch nicht so recht. Die westliche Autoindustrie sollte sich warm anziehen, denn was da aus dem Reich der Mitte an automobiler Ware herüberschwappt, ist mehr als tageslichttauglich. Ob nun die neuesten Modelle von Aiways, XPeng oder Zeekr - nach Billigheimer aus Fernost sehen sie alle nicht aus.

Doch zurück zum ET5. Mittlerweile im Innenraum angekommen, schweift der Blick über die Armaturentafel. Statt Holztäfelung wie im luxuriösen, größeren ET7 gibt es etwas mehr Kunststoff, aber keinesfalls weniger Display (12,8 Zoll) - und darauf kommt es schließlich an. Verarbeitung? Alles recht solide, jedenfalls gibts nach erster Tuchfühlung keinen Grund zur Beschwerde.

Natürlich ist ein erster Fahreindruck nicht mit einem intensiven Produkttest vergleichbar, aber die Mundwinkel zeigen rasch nach oben. Nämlich dann, wenn nach dem Bedienen des unkonventionellen Schwenkschalters für die Fahrstufen "D" einrastet und der Allradler an Fahrt aufnimmt. Und natürlich, wenn freie Fahrt gilt. Vier Sekunden verspricht das Werk für Erreichen von Landstraßentempo und auch danach geht es noch druckvoll weiter - aber nur im Modus "Sport Plus", in dem die volle Leistung von 489 PS anliegt.

In den Modi "Comfort" oder "Sport" marschiert der 2,2-Tonner gemächlicher, fordert die Nackenmuskeln nicht ganz so brutal. Kann man machen, wobei eigentlich nichts dagegenspräche, die 4,79 Meter lange Limousine ebenso in der komfortablen Einstellung maximal dynamisch sprinten zu lassen. Und das bitte auch über die künstlich definierten 200 Sachen hinaus, denn wenn man schon in der Premium-Liga spielen möchte, dann auch in allen Disziplinen. Denn oberhalb von Richtgeschwindigkeit fehlt dem ET5 außerhalb der Sport-Plus-Einstellung schon ein bisschen Dampf. Ja, das ist Nörgeln auf ganz hohem Niveau - aber wenn man schon solch abgehobene Leistungswerte ins Datenblatt schreibt, muss man sich das eben anhören.

Ein bisschen mehr Harmonie beim Fahrwerk bitte

Und die Sport-Einstellungen harmonieren wiederum nicht so sehr mit der hier erwarteten Tourer-Gangart. Überhaupt dürfte das Nio-Fahrwerk ruhig ein wenig softer sein, dann würde es auch besser zur leichtgängigen Lenkung passen. Warum bemüht drahtig statt authentisch komfortabel? Schwamm drüber, die Nio-Techniker machen immerhin viel richtig. Dazu gehört beispielsweise die geschickte Kombination aus Asynchronmotor vorn und permanenterregter Maschine hinten, um die Schleppmomente zu reduzieren bei mäßiger Last. Daraus ergibt sich ein für die Power und angesichts zweier angetriebener Achsen moderater kombinierter Verbrauch von 18,6 kWh je 100 Kilometer (WLTP).

Und während der Stromkonsum bei ausführlicheren Testfahrten noch genauer nachzuhalten ist, lassen sich zum Thema Bedienergonomie schon erste Schlüsse ziehen.

Schnell und intuitiv durch die Menüs browsen geht klar, bei den Assistenten ist man auch schnell angekommen - nämlich um die tendenziell nervige Spurhalte-Vibration auszuschalten. Ein sinnvoller Shortcut dafür lässt sich so schnell aber nicht ausmachen. Erfreulicherweise funktioniert der Sprachassistent recht gut. Navigationsziel mündlich formulieren - klappt tadellos. Nur die Eingabe der Hausnummer per Sprache mag nicht gelingen, hier muss erst der Touchscreen bemüht werden.

Der ikonische Allround-Assistent "Nomi Mate" mit den dynamisch reagierenden Augen im Displayelement auf den Armaturen ist beim ET5 übrigens kostenpflichtig. Inwieweit diese Art der spielerischen Unterhaltung bei den Europäern überhaupt ankommt, sei dahingestellt. Immer mitgeliefert dagegen wird "Nomi Halo" - hier entfällt das Gesicht im Comic-Style, stattdessen prangt eine Art Miniatur-Lautsprecher an dessen Stelle, der wohl als Audio-Eingang fungiert.

Die Sensordichte beim Nio ET5 beeindruckt

Assistenz soll eine Stärke von Nio sein - der Hersteller selbst spricht von 33 Sensoreinheiten, darunter viele Acht- und Drei-Megapixel-Kameras plus Radar sowie Ultraschall. Gelingt das assistierte Fahren besser als beim europäischen Premium-Wettbewerb? Soweit auf der ersten Testrunde zu beurteilen: nein.

Bleibt das ordentliche Platzangebot auf durchaus komfortablen Sitzen - vielversprechend bequem auf langen Strecken und hinten außerdem mit großzügiger Kniefreiheit gesegnet dank 2,89 Metern Radstand. Zumal das Mobiliar gegen 1500 Euro Aufpreis den Allerwertesten nebst Rücken klimatisiert und massiert. Stellt sich die Frage, wie Nio die für diese Klasse eher moderate Ladeleistung von 140 Kilowatt rechtfertig.

Der CCS-Anschluss für schnelles Gleichstromladen ist selbstverständlich vorhanden. Allerdings sind 140 Kilowatt Ladeleistung in dieser Preisliga viel zu wenig. Daran ändern auch zwei oder drei Batteriewechselstationen in Deutschland nichts.

Ganz einfach, mit hoher Stromspeicherkapazität (75, 100 und in Zukunft sogar 150 kWh), viel Reichweite von bis zu 590 Kilometern nach WLTP - und Batteriewechselstationen. Davon gibt es derzeit allerdings nur zwei aktive in Deutschland, und zwar bei Augsburg sowie Düsseldorf. Funktioniert ganz einfach: Fahrzeug einfahren wie in eine Waschanlage, dann ruckelt es ein bisschen, und binnen weniger Minuten wurde der leere gegen den vollen Akku getauscht. Somit liegt man nicht über jener Zeit, innerhalb derer auch ein konventioneller Kraftstofftank befüllt werden kann.

Ist ein schönes Nice-to-have - aber die Zielrichtung sollte natürlich sein, Technologien zu entwickeln, um Batterien in Zukunft schnell laden zu können. Denn seien wir ehrlich, so dicht und lokal wie das Schnellladenetz wird das Netz von Batteriewechselstationen niemals sein können, zumal diese Technologie in absehbarer Zeit nicht markenübergreifend funktionieren wird.

Diverse Finanzierungsoptionen

Kostenpunkt beim Nio ET5? Der Hersteller winkt mit dem Abo-Modell, hat allerdings jüngst auch eine Kaufoption eröffnet. Bei der Finanzierungsthematik lohnt es sich durchaus, einmal den Bleistift anzuspitzen und die Kalkulation akribisch niederzuschreiben. Die Abo-Kosten liegen bei 999 Euro (36 Monate Laufzeit) respektive 1238 Euro monatlich bei flexibler Laufzeit für die Version mit 75-kWh-Batterie. Entscheidet man sich für die 100-kWh-Batterie, werden 1175 Euro respektive 1450 Euro monatlich fällig. Darin sind 1250 Kilometer monatlich enthalten - jeder weitere Kilometer kostet 22 Cent. Es gibt noch ein 36 Euro pro Monat kostendes Care-Paket, um bei der Rückgabe keine bösen Überraschungen zu erleben - in diesem Fall wird die Ausbesserung von Dellen und Kratzern nicht berechnet.

Die Kaufoption ist mit 47.500 Euro (ohne Förderung) verbunden, wobei die Batterien mit jeweils mit 12.000 Euro (75 kWh) oder 21.000 Euro (100 kWh) abzugelten sind. Alternativ muss der Käufer 169 Euro beziehungsweise 289 Euro Batteriemiete monatlich entrichten. Kauft der Kunde die Batterie, darf er keinen Akkutausch an der Wechselstation durchführen. Wählt er das Abonnement, sind Batteriewechsel hingegen erlaubt und die Versicherungskosten bereits inbegriffen. Dennoch erscheint die Rate üppig - wer sein Auto fünf Jahre oder länger nutzen möchte, muss schon genau überlegen, welche Wahl er trifft.

Zum Schluss noch ein Argument für den Nio ET5, das tatsächlich zum Grübeln anregt: Ganze 1400 Kilogramm darf er an den Haken nehmen, welcher selbst mit zusätzlichen 1200 Euro zu Buche schlägt. Ob der Kunde so viel Geld für ein chinesisches Fabrikat bezahlt, bleibt abzuwarten. Schlecht ist der ET5 jedenfalls nicht.

Quelle: ntv.de


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