Keine „Turkish Stream“ vor Türkei-Wahl
Erdogan unter Druck
Nachdem die Regierungspartei AKP des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan bei den Wahlen im Juni 2015 die absolute Mehrheit verloren hatte und nicht in der Lage war, eine Regierung aufzustellen, wurden für den November Neuwahlen anberaumt. Hinter dem Mehrheitsverlust der AKP stand das unerwartet gute Abschneiden der pro-kurdischen Partei HDP, deren charismatischer Vorsitzender Selahattin Demirtaş auch außerhalb der kurdischen Stammklientel erfolgreich auf Stimmenfang geht.
In Moskau hieß es in dieser Woche, Hauptgrund der Verzögerung sei, dass aufgrund der unklaren Situation und angesichts vorgezogener Parlamentswahlen in Ankara niemand bevollmächtigt sei, die entsprechenden Verträge zu unterzeichnen.
Lange Zeit galt der Streit um die von der Türkei geforderten Rabatte (mindestens 10 Prozent) für Gaslieferungen zum eigenen Verbrauch als wesentlicher Streitpunkt. Seit Beginn der russischen Militäroffensive zur Unterstützung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad hat sich die Situation kardinal geändert. Der türkische Präsident ist einer der profilitiertesten Gegner seines syrischen Amtskollegen. Seit Jahren unterstützt Ankara die Rebellen im syrischen Bürgerkrieg militärisch, finanziell und logistisch. Auch dem „Islamischen Staat“, der ebenfalls gegen Assad kämpft, soll die Türkei angeblich Unterstützung gewähren.
Zu 60 % von russischem Gas abhängig
Nach dem Beginn russischer Angriffe auf Rebellen-Stützpunkte in Syrien hatte Erdogan gesagt, die Türkei werde überhaupt kein Gas mehr in Russland kaufen – es gebe genug andere Quellen. Am heutigen Mittwoch dämpfte der kommissarische türkische Energie- und Umweltminister Ali Riza Alaboyun derartige Erwartungen. Die Türkei sei zu 60 Prozent auf russisches Gas angewiesen und wolle darauf nicht verzichten. Es gebe auch keine russisch-türkischen Konflikte im Energiebereich.
Russische Beobachter schließen nicht aus, dass Erdogan im Fall einer erneuten Niederlage der Regierungspartei AKP die Novemberwahlen für ungültig erklärt und den Ausnahmeszustand ausruft. In dem Fall würden ihm alle staatlichen Vollmachten zufallen und er wäre in der Lage, die Verträge zu „Turkish Stream“ bindend zu unterzeichnen. Dennoch geht man in Russland übereinstimmend davon aus, dass dem türkischen Präsidenten die innenpolitische Entwicklung ungleich wichtiger ist als irgendwelche türkisch-russischen Gasverträge.
Zudem ist die als „Blue Stream“ bekannte russisch-türkische Gaspipeline unter dem Schwarzen Meer (16 Mrd Kubikmeter Jahreskapazität) voll in Betrieb und ausreichend für den türkischen Bedarf. Der Schuh drückt also nicht in Ankara, sondern in Moskau. Dort sucht man dringend nach Alternativen zum Gastransit durch die Ukraine – die Verträge mit Kiew laufen 2018 aus. Das wissen natürlich auch die Türken; folgerichtig sehen sie keinerlei Grund, sonderliche Eile an den Tag zu legen.