Diese drei Gerüchte behinderten die Arbeit der Polizei

  26 Juli 2016    Gelesen: 525
Diese drei Gerüchte behinderten die Arbeit der Polizei
Alle loben die besonnene Art, in der Münchens Polizei ihre Stadt durch die Schreckensnacht führte. Dabei hielt ein neuer Gegner die Einsatzkräfte mit falschen "Tatorten" in Atem: das virale Gerücht.
Als die ersten Schüsse fielen, als die Lage im Olympia-Einkaufszentrum in München binnen Minuten zur polizeilichen Großlage eskalierte, spätestens aber als der Menschenjäger vor dem McDonald`s erschien und Passanten unter Feuer nahm – da waren die ganze Stadt und die ganze Welt live dabei.

Irgendwer zückt immer sein Smartphone, irgendwer steht zufällig nahe beim Geschehen, hält drauf und sendet. So geht Live-Fernsehen heute – die Stadt und der Erdkreis schauen zu, wie das jüngste Attentat seinen blutigen Lauf nimmt. Und das alles in einem Zustand allgemeiner Alarmiertheit.

Ganze vier Abende nach dem Axt-Attentat im Regionalzug bei Würzburg fielen die Schüsse von München in eine Stimmung hinein, in der ein großer Terroranschlag beinahe erwartet wurde. Das Gefühl war, die Einschläge kommen näher, und so machten sich Schrecken und hier und da auch Panik breit, als draußen in Moosach die Schüsse peitschten.

Viele starrten auf die Bildschirme und dachten sich: Jetzt ist es so weit, jetzt ist der Terror auch bei uns angekommen. Und die erfüllte Erwartung des großen Schreckens entlud sich im Gerücht. Nun gab es immer Gerüchte, aber heute sind sie mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs und finden in einer Sekunde ein globales Publikum. Jeder, der etwas sieht oder zu sehen meint, bläst es hinaus in alle Welt.

All das erschien so wahrscheinlich

Gerücht Nummer eins lautete, der Attentäter sei nicht einer, es seien ihrer vielmehr drei. Gerücht Nummer zwei meldete, sie führten Langwaffen bei sich, also kriegsmäßige Gewehre, nicht nur Pistolen.

Diese Fehlmeldung kam allerdings nicht aus sozialen Netzwerken, sie ging beim polizeilichen Notruf ein, von panischen Besuchern des OEZ. Gerücht Nummer drei: Der Täter habe "Allahu akbar!" gerufen ("Gott ist groß!") – so verabschieden sich islamistische Selbstmordattentäter in den Tod.

Das Schlimme war: Das alles hätte ja wirklich so sein können, es war sogar wahrscheinlich nach Paris, Nizza, Würzburg. Und doch war es nicht so.

Und so hatte Marcus da Gloria Martins eine Menge zu tun in dieser Nacht. Der Sprecher der Münchner Polizei beruhigt und stellt richtig in einem fort. "Dazu kann ich noch nichts sagen, dass muss ich noch abklären", sagte er ein ums andere Mal.

Im ersten Stock eines Opel-Kia-Autohauses hat die Münchner Polizei wenige Hundert Meter vom Tatort entfernt ein provisorisches Pressezentrum eingerichtet. Der Polizeisprecher mit dem klingenden Namen wird in der Schreckensnacht mit immer neuen Spekulationen konfrontiert, die über soziale Netzwerke wie Facebook oder WhatsApp verbreitet werden.

"Stimmt es, dass es neben den Schüssen im Einkaufszentrum eine Schießerei am Stachus gegeben hat?", wird der 49-Jährige gefragt. "Vorhin soll es eine Geiselnahme im Kaufhof am Marienplatz gegeben haben, was wissen Sie dazu?", lautet eine andere Frage.

Ein Zeuge will den Täter jenes "Allahu akbar" rufen gehört haben, was auf einen terroristischen Hintergrund hindeuten würde: "Ist das richtig?" Fast immer kommt die Antwort: "Bevor ich etwas dazu sagen kann, muss der Sachverhalt geklärt sein."

"Das hier ist brutale Realität"

Für die Münchner Polizei ist es das zweite Großereignis nach der Terrorwarnung an Silvester, bei der die Stadt auch in einem Ausnahmezustand war. Doch jetzt ist alles viel schlimmer. Diesmal sind Schüsse gefallen, es gibt Tote und Verletzte. "Wir sind nicht in einem Film, sondern es ist brutale Realität", sagt Marcus da Gloria Martins und schaut, welche neuen Nachrichten er auf seinem Smartphone findet.

Etwa alle halbe Stunde informiert er die gut ein Dutzend Journalisten im Autohaus über den neuen Stand. Zunächst ist von sechs Opfern die Rede, dann steigt die Zahl der Toten auf acht, dann auf neun und schließlich auf zehn.

Schon kurz nach den Schüssen hat die Polizei per Twitter über einen "großen Polizeieinsatz am OEZ" berichtet. "Bitte meiden Sie den Bereich um das Einkaufszentrum", heißt es per Kurznachricht. Und dann: "Bleiben Sie in Ihren Wohnungen. Verlassen Sie die Straße."

Über soziale Medien werden die Nachrichten in Windeseile weitergeleitet. Es entsteht eine Informationsmixtur aus Fakten, Spekulationen und Halbwahrheiten, die sich über die Netzwerke verbreiteten. Die Lage wird immer unübersichtlicher. Und so kommt es, dass sich in manchen Gegenden Münchens eine gewisse Panik entwickelt.

Anruf bei der Hofpfisterei um 19.25 Uhr, eine Verkäuferin nimmt ab. "Wir sehen Leute rennen", sagt sie und dass in der Tiefebene des Stachus alles durcheinanderrenne. Während sie spricht, ist im Hintergrund eine männliche Stimme zu hören, vermutlich ihr Chef: "Duck dich am besten!", ruft er und: "Dreht das Licht aus!" Am Stachus werde auch geschossen, ging das Gerücht.

"HÖRT AUF DAMIT!"

Anruf beim dm-Markt am Stachus um 19.35 Uhr, der Filialleiter ist am Telefon. "Alle von uns befinden sich im Lager", sagt er, "alle sind in Sicherheit, die Filiale ist abgesperrt." Alle Läden im Tiefgeschoss seien jetzt abgesperrt. "Sonst sind hier 4000 Menschen unterwegs, jetzt ist es draußen menschenleer."

Es gibt Verletzte am Stachus und anderen Orten, an denen angeblich auch etwas passiert, weil Menschen in Angst einfach losrennen, beispielsweise über die Trambahnschienen.

Gegen 19.30 Uhr tritt Martins mit einem Appell an die Medien: Es sollten in den sozialen Netzwerken bitte keine Fotos oder Filme von den Polizeiaktionen verschickt werden. "Die Täter sollen nicht informiert werden, was wir machen", sagt er. Und schiebt hinterher, die Polizei werde auch Hinweisen im Netz nachgehen, wenn falsche Nachrichten verbreitet würden. Im Netz gibt es bereits Bilder aus dem Einkaufszentrum von Opfern in Blutlachen, doch dazu will sich der Pressesprecher nicht äußern.

Nun ist dem sonst so souverän und besonnen auftretenden Polizeisprecher doch einige Wut anzumerken. Es gibt eigens eine Twitter-Nachricht der Polizei: "An alle, die Bilder von Opfern veröffentlichen: HÖRT AUF DAMIT! Habt Respekt vor dem Leid der Angehörigen."

Gegen 22 Uhr beruhigt sich die Lage etwas. Zwar flammt immer noch das Blaulicht von Polizei- und Rettungsfahrzeugen um den Tatort auf, und schwer bewaffnete Sondereinsatzkräfte sind zu sehen, doch da Gloria Martins wirkt etwas entspannter.

Er spricht nun von "bis zu drei Tätern", nach denen gefahndet werde. Dass es nur ein einziger Täter war, wird erst auf einer Pressekonferenz im Münchner Polizeipräsidium gegen zwei Uhr nachts bestätigt. Dass sich David S. bereits vor Stunden vor den Augen der Polizei erschossen hat, wird erst am Abend darauf bekannt.

Er habe den Anspruch auf "schnelle, aber auch sichere Information", sagt da Gloria Martins. "Nichts ist schlimmer, als wenn wir veröffentlichen, wir haben 35 Tote, aber es sind dann nur zwei. Ich will keine Panikmache in der Stadt mit 1,6 Millionen Einwohnern."

Für den Polizeisprecher sind die sozialen Medien ein Segen, wie er sagt, weil sie eine Plattform für die Warnung der Bevölkerung böten. Die macht massiven Gebrauch davon. Noch 14.000 unbearbeitete "Interaktionskontakte" gibt es, die jetzt aufgearbeitet werden müssen, und zahlreiche Videos, die von Augenzeugen hochgeladen wurden.

Nur ein Segen? Für Polizeiermittler sind die Handyaufnahmen und Nachrichten in sozialen Netzwerken große Herausforderungen, wie da Gloria Martins Chef, Münchens Polizeipräsident Hubertus Andrä, später ausführt. "Das Problem ist, dass diese Medien genutzt werden, um mögliche Hinweise zu geben."

Tatsächlich können Videos von Tatorten, womöglich noch während eines Attentats, vielleicht sogar live ins Netz gestreamt, den Tätern helfen. Ein Smartphone und der Zugang zu Twitter, Facebook oder der Livestream-App Periscope genügen, und schon sind Attentäter in der Lage, das Geschehen von der anderen Seite zu verfolgen. Ist die Polizei bereits vor Ort? Sind Spezialkräfte im Einsatz? Wo befinden sie sich gerade? Wann erfolgt der Zugriff?

Entscheidende Informationen, die im Ernstfall über Leben und Tod entscheiden, werden durch Social Media mit wenigen Klicks zum Vorteil für die Attentäter.

Doch es ist wahr, auch die Polizei hat Vorteile davon. Handyaufnahmen sind zunehmend Teil der späteren Ermittlungsarbeit. Nicht zuletzt, weil sie wichtige Informationen enthalten könnten, ruft die Polizei immer häufiger dazu auf, die Videos und Fotos an die Ermittler zu schicken, statt sie einfach im Netz zu posten.

So ist es nicht erst jetzt, so geschah es beispielsweise nach dem Bombenanschlag auf den Marathon in Boston im April 2013. Damals wurden die Aufnahmen von mehr als 600 stationären Kameras und unzähligen Privat-Handys ausgewertet. Schon 24 Stunden nach der Tat verfügte die Polizei über mehr als zehn Terabyte an Daten.

Und auch nach der Silvesternacht von Köln setzten die Ermittler schließlich auf die Hilfe aus der Bevölkerung. Mitte Januar publizierte Kölns Polizei über Twitter den Aufruf: "Ermittlungsgruppe Neujahr: Private Handy-Videos uploaden".

Ein Online-Portal wurde eingerichtet, auf dem – auch anonym – Aufnahmen hochgeladen werden konnten. Die Bilanz allerdings war in diesem Fall eher mau. Was daran lag, dass zwar auf der Kölner Domplatte in der Neujahrsnacht zahlreiche Aufnahmen entstanden; die wenigsten aber filmten tatsächlich das Geschehen in der Menschenmenge, sondern eher das Feuerwerk. Nur ein sehr kleiner Teil der Videos und Fotos war daher auswertbar.

15 konkrete Hinweise auf deutsche Hooligans

Als in Frankreich vor wenigen Wochen während der Fußballeuropameisterschaft auch deutsche Hooligans an gewaltsamen Ausschreitungen beteiligt waren, forderte das Bundeskriminalamt (BKA) die Augenzeugen ebenfalls dazu auf, ihre Handyaufnahmen einzusenden – mit einigem Erfolg.

"Wir haben über 70 Hinweise bekommen auf dem Portal, mit dem Mehrfachen an Bildmaterial", sagte BKA-Präsident Holger Münch Ende Juni. "Wir haben ungefähr 15 sehr, sehr konkrete Hinweise, die wir jetzt mit der Staatsanwaltschaft erörtern, ob daraus auch Ermittlungsverfahren erwachsen."

Am nächsten Morgen hat Marcus da Gloria Martins seine heilsame Souveränität ganz und gar wiedergewonnen. Seine Stadt noch nicht ganz. München ist stiller als sonst an einem Samstagvormittag. Weniger Autos, weniger Menschen, nicht alle Geschäfte haben schon wieder geöffnet. Die Stadt hält inne nach dieser Nacht, die nicht alles verändert, aber doch manches in ein grelles Licht gerückt hat.

Quelle : welt.de

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