In der Kathedrale wandten sich seine Schwester und eine Nichte an die Trauergemeinde. Sie erinnerte daran, dass sich ihr Bruder während des Algerien-Kriegs entschieden habe, als einfacher Soldat zu dienen, obwohl ihm damals der Offiziersgrad angeboten worden sei, sagte die Schwester. Diesen habe er abgelehnt, da er keine Befehle zum Töten habe geben wollen. „Er war mein Bruder. Er war unser aller Bruder“, sagte Roselyne Hamel. Der Erzbischof von Rouen, Dominique Lebrun, verurteilte jegliche Gewalt. Es könne nicht sein, dass Morde nötig seien, um einander zu Gerechtigkeit und Liebe zu bekehren. Zu den Katholiken in Frankreich sagte er: „Wir sind verletzt, bestürzt, aber nicht geschlagen.“ Er begrüßte die „Worte und Gesten unserer muslimischen Freunde“, die zeigten, dass auch sie Gewalt ablehnten.
Der Priesternachwuchs in Frankreich bleibt aus
Die Attacke während der heiligen Messe hat ganz Frankreich erschüttert. Für kurze Zeit war die Nation im Entsetzen vereint. „Wir sind alle Katholiken Frankreichs“, sagte der Vorsitzende des Islamrats CFCM, Anouar Kbibech. Diese spontane Solidarisierung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die „älteste Tochter der Kirche“ kränkelt. Die Bezeichnung der „ältesten Tochter“ geht auf das Jahr 754 zurück, als Papst Stephan II. eine Allianz mit den Franken schloss und Pippin den Kurzen zum König salbte. Noch heute wird jedes Jahr in einer römischen Kirche zur Erinnerung an dieses Ereignis am 31. Mai eine Messe für Frankreich gelesen.
Doch Frankreich ist sich dieser Tradition kaum noch bewusst. Immer weniger Franzosen engagieren sich in der katholischen Kirche. Der Priesternachwuchs bleibt aus. In diesem Jahr werden nach Angaben der katholischen Bischofskonferenz nur 100 Priester geweiht, 2015 waren es noch 120, 2014 140. „Diese Krise ist die Folge anderer Krisen“, sagte Olivier Ribadeau Dumas, der Sprecher der französischen Bischofskonferenz. „Es gibt eine Krise der Berufungen in unserem Land, weil wir eine Krise des Glaubens, der Glaubensvermittlung, eine Sinnkrise und eine Krise der Familie erleben“, sagte Ribadeau Dumas.
Zahl der Taufen kontinuierlich gesunken
In wohl keinem anderen europäischen Land ist die Säkularisierung so weit vorangeschritten wie in Frankreich. Seit 1905 gilt das Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat, das die Grundlage der französischen Laizität bildet. Die Schulgesetze, die das Kruzifix und den Religionsunterricht aus den Klassenzimmern verbannten, reichen in die Jahre 1879 bis 1882 zurück. Die katholische Kirche hat sich aus dem staatlichen Schulwesen mit Ausnahme der Schulseelsorge (aumôneries scolaires) an den weiterführenden Schulen gänzlich zurückgezogen. Im öffentlichen Leben und als politische Kraft spielt sie nur noch eine untergeordnete Rolle.
Den Rückgang des Katholizismus verdeutlicht auch die Statistik der französischen Bischofskonferenz zur Zahl der Taufen. Wurden 1990 noch 472.130 Kinder und Erwachsene getauft, ist die Zahl kontinuierlich gesunken. Im Jahr 2000 gab es 400.327 Täuflinge, 2010 nur noch wenig mehr als 300.000. Die letzte verfügbare Zahl geht ins Jahr 2012 zurück und markiert einen neuen Tiefstand mit nur 290.282 katholischen Taufen.
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