Johnson hielt sich zu einem länger geplanten Antrittsbesuch bei dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) auf. Trotz öffentlicher freundlicher Gesten, zu denen gegenseitiges Duzen („Boris“ und „Frank“) und das auf Deutsch vorgetragene Eingeständnis Johnsons gehörten, er sei zwar kein Berliner, aber seine Frau sei eine, da sie in Berlin geboren sei, blieben der britische wie der deutsche Minister strikt bei den Haltungsformeln zum „Brexit“, die sich in den letzten Monaten herausgebildet haben.
Johnson wiederholte die Formulierung, Großbritannien wolle die EU verlassen, nicht aber Europa. Es fühle sich seinen „europäischen Partnerschaften verpflichtet“; der Brexit biete auch Chancen, er könne eine „Win-Win-Situation“ werden. Das britische Verhältnis zu Deutschland sei für sein Land „von absoluter grundlegender Bedeutung“, sagte Johnson und fügte die dialektische Bemerkung an, gerade weil sich sein Land nun aus der EU herauswinden werde, biete sich doch die Chance, die grundlegenden Beziehungen zu den europäischen Partnern viel besser zu pflegen und somit eigentlich „viel europäischer“ zu sein.
Steinmeier ging auf solche Offerten mit keinem Wort ein. Er trug die bekannte Haltung der Bundesregierung vor: Es wäre aus deutscher Sicht besser gewesen, die britischen Wähler hätten sich für den Verbleib in der EU entschieden. Die deutsche Priorität müsse nun der Zusammenhalt der 27 europäischen Mitgliedstaaten sein; es könne keine Vorverhandlungen geben, bevor London den EU-Austritt formell erklärt habe; eine lange „Hängepartie“ vor Beginn der Austrittsgespräche sei schädlich; Großbritannien könne nicht die Vorteile des Binnenmarkts für sich bewahren, die „weniger angenehmen“ Regeln aber gleichzeitig außer Kraft setzen wollen.
Am Ende gestand Steinmeier zu, Großbritannien bleibe ein wichtiger Partner, um die Krisen jenseits der europäischen Grenzen im Osten und Süden zu bewältigen. Und über diese Krisen, also Ukraine, Syrien, Türkei, sei vor allem gesprochen worden.
Johnson beteuerte mit Blick auf das Londoner Gerichtsurteil, er erwarte keine deutliche Verschiebung des Beginns der Brexit-Verhandlungen, mit denen die britische Regierung nach bisherigem Bekunden im März nächsten Jahres beginnen wolle. Man solle in das Votum der Richter „nicht zu viel hineinlesen“. Premierministerin May teilte nach Londoner Angaben der deutschen Kanzlerin und dem Brüsseler Kommissionspräsidenten mit, die Regierung habe starke juristische Argumente auf ihrer Seite, um das Urteil vor dem Supreme Court, der die Rolle eines Verfassungsgerichts hat, anzufechten. Johnson sagte, die Regierung verwirkliche den Willen des britischen Volkes, die EU zu verlassen.
Mutmaßungen über vorgezogene Unterhauswahl
In London kündigte am Freitag ein weiterer Abgeordneter der Konservativen an, seinen Parlamentssitz aufzugeben. Stephen Phillips, der den Wahlkreis Sleaford and North Hykeham im Unterhaus repräsentiert, nannte als einen Grund dafür die Art, wie die Regierung mit dem Brexit-Votum umgehe und dem Parlament eine Entscheidung über die Kriterien eines Austritts verweigere. Vor Phillips hatte der bekannte Konservative Zac Goldsmith seinen Sitz im Unterhaus aus Protest über die Entscheidung aufgegeben, den Flughafen Heathrow mit einer dritten Startbahn zu erweitern.
Phillips’ Rückzug nährte Mutmaßungen, Premierministerin May könne eine vorzeitige Unterhauswahl im nächsten Frühjahr anberaumen, um auf diese Weise ein neues, frisches Mandat für die Brexit-Verhandlungen zu gewinnen. Johnson beteuerte in Berlin, die gegenwärtige Regierung wolle in der Brexit-Frage weitermachen.
In Brüssel sagte eine Sprecherin der EU-Kommission, es habe ein „ziemlich kurzes“ Telefonat zwischen May und Juncker gegeben. Juncker habe beteuert, es bleibe dabei, dass Austrittsverhandlungen erst beginnen könnten, wenn der britische Antrag gestellt sei.
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