Ein Gastbeitrag von Fariz Ismailzade, Baku
Ausländische Diplomaten und Besucher stellen mir oft eine einfache Frage: "Wie schafft es Aserbaidschan, so gute Beziehungen zu Russland aufrechtzuerhalten?"
Den Hintergrund dieser Frage bilden die tragischen Ereignisse in der Ukraine, bei denen Russland als eine der involvierten Parteien betrachtet wird. Die Frage ist einfach, die Antwort komplex.
Ja, heute erfreut sich Aserbaidschan recht positiver, pragmatischer und für beide Seiten vorteilhafter Beziehungen zu Russland. Das Handelsvolumen wächst. Das politische Vertrauen ist groß, der politische Dialog intensiv und die zwischenmenschlichen Kontakte sind enger als zuvor. Das war nicht immer so.
Ich erinnere mich an moskaufeindliche Demonstrationen in Baku und anderen Städten Aserbaidschans zwischen 1988 und 1990, in den letzten Tagen des Sowjetimperiums. Millionen Aserbaidschaner gingen auf die Straße, um gegen die Politik des Kremls im Berg-Karabach-Konflikt zu protestieren. Die Leute hatten genug von Kommunismus und Totalitarismus. Sie kämpften für Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität. Die Antwort von Präsident Michail Gorbatschows war der Einsatz von Panzern. Am 20. Januar 1990, in der sogenannten Nacht des Schwarzen Januars, wurden Hunderte Zivilisten getötet, aus dem einzigen Grund, dass sie ihre Rechte einforderten. Damals war die antirussische Stimmung in Aserbaidschan auf dem Höhepunkt. Russland war der Feind. Russland bedeutete Gefahr. Russland bedeutete Ungerechtigkeit.
Russland der Schlüssel zu Berg-Karabach
In der Folge wurde Russland für uns Aserbaidschaner zu einem Synonym für die Besetzung von Berg-Karabach durch die Armenier. Es war klar, wer hinter dieser militärischen Aggression stand. Es war offenkundig, wessen Interessen sie diente. Seit 1993 wurden fast eine Million Aserbaidschaner aus ihren Häusern vertrieben und mussten in Notunterkünften leben. Fragt man heute Menschen in Aserbaidschan, wird man die Antwort erhalten: "Eine Lösung des Berg-Karabach-Konfliktes hängt vom Kreml ab. Der Schlüssel liegt in Moskau." Moskau scheint daran interessiert, den Zustand "kein Krieg, kein Frieden" aufrechtzuerhalten, um seine geopolitischen Interessen in der strategisch wichtigen Region Südkaukasus zu stärken.
Doch trotz einer schwierigen Vergangenheit und den anhaltenden Herausforderungen sind Aserbaidschan und Russland heute starke Partner. In den vergangenen 25 Jahren seiner Unabhängigkeit hat Aserbaidschan ein beispielloses wirtschaftliches Wachstum erlebt. Es hat sich ein erstaunlicher gesellschaftlicher Wandel vollzogen, und die hart erkämpfte Souveränität hat positive Ergebnissen gebracht.
Zwar trifft man immer noch Rentner, die behaupten, unter dem Sozialismus sei alles besser gewesen und die Menschen hätten ein besseres Leben geführt, doch diese Stimmen werden von Jahr zu Jahr weniger. Jüngere Leute haben kaum noch Erinnerungen an die Sowjetzeit. Sie sind in einem unabhängigen Land geboren und aufgewachsen und haben kaum Sehnsucht nach der sowjetischen Vergangenheit.
Nachbarschaft und Unabhängigkeit
Die Sowjetunion hat in Aserbaidschan viel Positives gebracht. Eine hohe Alphabetisierung, ein entwickeltes Bildungswesen, Gesundheitsfürsorge und Wissenschaften haben dazu beigetragen, eine entlegene muslimische Provinz zu einer säkularen Gesellschaft umzugestalten. Es ist kein Zufall, dass Aserbaidschan das erste islamische Land der Welt war, in dem 1918 die Frauen das aktive und passive Wahlrecht erhielten. In Baku wurden die erste Oper und das erste Ballett der islamischen Welt aufgeführt.
Noch heute, 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, gibt es in Aserbaidschan öffentliche Schulen mit Russisch als Unterrichtssprache. Baku besitzt ein russisches Theater und die Slawische Universität. Die russisch-orthodoxe Kirche und die russischen Minderheiten sind gut ausgestattet und werden vom Gesetz und von der Verfassung der Republik Aserbaidschan geschützt. Dutzende Flüge täglich ermöglichen den freien Personenverkehr zwischen Russland und Aserbaidschan. Geschäftskontakte und Handelsabschlüsse erleben einen Aufschwung. Und das alljährlich stattfindende Russisch-Aserbaidschanische Forum für Humanitäre Zusammenarbeit markiert einen Höhepunkt in den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Länder.
Was ist das Geheimnis dieses Erfolgs? Ich würde sagen, in erster Linie die Vision der politischen Führung auf beiden Seiten. Präsident Wladimir Putin und Präsident Ilham Alijew haben die Bedeutung ihrer Länder füreinander erkannt und bemühen sich um eine Festigung der Beziehungen und um pragmatische Zusammenarbeit. Zwischen ihnen gibt es keine ideologischen Feindseligkeiten. Politischer Dialog und wirtschaftliche Partnerschaft sind für die Bevölkerung beider Staaten notwendig und nützlich. Aus diesem Grund arbeiten die Regierungen auch gemeinsam an der Lösung wichtiger Fragen und stellen die Partnerschaft und nicht die Unterschiede in den Mittelpunkt. Die Präsidenten der beiden Staaten haben ein gutes persönliches Vertrauensverhältnis. Das zeigte sich deutlich, als Präsident Putin am 12. Juni 2015 (dem Tag Russlands, einem russischen Nationalfeiertag) nach Baku reiste, um an der Eröffnung der ersten Europaspiele teilzunehmen.
Differenzen in der Ukrainefrage
Gleichzeitig hat die aserbaidschanische Führung einen gangbaren Weg gefunden, Moskau gegenüber Nein zu sagen, wenn es um Fragen von nationalem Interesse oder nationaler Priorität geht. So darf und kann beispielsweise die Energiesicherheit und die Zusammenarbeit mit Europa im Energiesektor von keinem anderen Land blockiert werden. Trotz des Drucks seitens politischer Kreise in Moskau hat Aserbaidschan Öl- und Gaspipelines gebaut, um seine reichen Energieressourcen in die EU zu exportieren. Auch die Unterstützung der territorialen Integrität der Ukraine und anderer GUS-Staaten ist ein Thema, bei dem Aserbaidschan keine Kompromisse macht. Wir glauben an eine friedliche Lösung regionaler Konflikte auf der Grundlage völkerrechtlicher Prinzipien und der territorialen staatlichen Integrität. Aserbaidschan ist weder der Zollunion noch der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit oder der Eurasischen Wirtschaftsunion beigetreten.
Russland ist ein starker regionaler Akteur. Das ist eine Tatsache, und wir können die Landkarte nicht umgestalten. Uns ist es bestimmt, noch viele Jahrhunderte Seite an Seite mit Russland zu leben. Deshalb konzentriert sich Aserbaidschan auch auf den Aufbau enger Beziehungen zu Moskau. Es ist kein Geheimnis, dass Russland für die Sicherheit in der Region eine maßgebliche Rolle spielt. Und moderne Bedrohungen wie Terrorismus, extremistische Gewalt und der radikale Islam können einzig und allein durch Kooperation bekämpft werden.
Aus diesem Grund wird Aserbaidschan auch in Zukunft eng mit Russland zusammenarbeiten, um den Frieden und die Stabilität in der gesamten Kaspischen Region zu sichern. Zugleich wird es daran festhalten, seine Unabhängigkeit und seine Souveränität zu stärken und gleichermaßen wichtige und für beide Seiten vorteilhafte Beziehungen mit anderen Nachbarn wie der EU und der islamischen Welt aufzubauen.
Fariz Ismailzade ist Vize-Rektor für Außenbeziehungen, Verwaltung und Studierendenangelegenheiten an der ADA Universität in Baku. Er ist Wirtschaftswissenschaftler und Politologe und forschte am Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington, D.C. mit Schwerpunkt Kaukasus und Zentralasien, Energiesicherheit und Entwicklung. Er schreibt für Eurasianet.org, Transitions Online und den Jamestown Daily Monitor.
Quelle:zeit.de
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