Molokanen: Geschichte und Gegenwart

  19 Januar 2017    Gelesen: 7137
Molokanen: Geschichte und Gegenwart
Von Asif Masimov
Doktorand an der Humboldt-Universität zu Berlin


In der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts war die Kaukasusregion durch die Umsiedlungspolitik des zaristischen Russlands geprägt. In diesem Zeitraum wurden vie­le Völker sowohl aus der naheliegenden Region als auch dem tiefsten Europa ange­siedelt. Unter diesen angesiedelten Völkern befanden sich auch die Molokanen, wel­che wegen ihrer religiösen Anschauung vom zaristischen Russland vertrieben wur­den. Eine neue Heimat fanden die Anhänger des Molokanentums im Kaukasus im heutigen Aserbaidschan, in Armenien und Georgien.
An dieser Stelle möchte ich betonen, dass ich selbst aus einem in Aserbaidschan von Molokanen bevölkerten Dorf (Ivanovka) stamme, aber nicht zu dieser religiösen Strömung gehöre. Mein Interesse an der geschichtlich-kulturellen Entwicklung dieses Dorfes sowie des Molokanentums führten jedoch dazu, dass ich im Jahre 2011 eine Webseite (ivanovka.net) erstellt habe. Es ist mir gelungen in kurzer Zeit wichtige In­formationen über das Dorf und die Geschichte von in Aserbaidschan lebenden Molo­kanen in russischer Sprache zu sammeln und für weitere Recherchen ein kleines Team zusammenzustellen. Darüber hinaus möchte ich erwähnen, dass sich meine Doktorarbeit auch auf diese Thematik bezieht, wobei ich mich dort nicht nur mit der Ansiedlung der Molokanen befasse, sondern auch einen Blick auf die Ansiedlung der anderen Sektierer im Kaukasus werfe, wie beispielsweise die Duchoborzen.
Dieser Artikel soll den Lesern ermöglichen, eine erste Vorstellung über das Moloka­nentum zu erlangen.
Geschichte
Diese religiöse Bewegung entstand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Russland, entwickelte sich aber erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts merklich weiter. Die Gründer des Molokanentums sind unbekannt. In einem Verhör im Jahre 1765 seitens des Bischöflichen Konsortiums in Tambow, an dem die Ver­dächtigen Ilarion Pabirochin und Semjon Uklein teilnahmen, wurde die offizielle Ver­breitung dieser religiösen Bewegung datiert. Semjon Uklein, der früher zu den Duchoborzen gehörte, ist es gelungen, in kürzester Zeit durch seine Organisationsfä­higkeit unterschiedliche religiöse Gruppierungen unter seiner Führung zusammenzu­scharren. Außer den Molokanen befanden sich unter den von Uklein kontrollierten Gruppierungen zudem Anhänger der „Ikonenkämpfer“ und „Sabbatheiligen“. Uklein übte seine Mission im Dorf Rybnoe im Kreis Morschansk aus.

Uklein und seine Anhänger waren überzeugt, dass sie das richtige Christen­tum gefunden haben, sodass sie mit der Bibel von Haus zu Haus gingen und ihre re­ligiöse Lehre verbreiteten. Christus war für die Anhänger der molokanischen Bewe­gung keine historische Persönlichkeit, sondern sollte in jedem Kopf stets präsent sein.
Ein wichtiger Meilenstein für die Molokanen ereignete sich im Jahr 1805. Durch den Erlass von Alexander I. wurde die Ausübung des Molokanentums nun offi­ziell anerkannt. Unter Nikolai I. wurden die Molokanen aber verfolgt und von Ort zu Ort umgesiedelt, sodass in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts aus religiösen so­wie politischen Gründen die große Umsiedlung der Molokanen im Kaukasus begann.[2]
Ein weiterer wichtiger Meilenstein wurde für die Molokanen im Jahr 1905 er­reicht, als der erste Allrussische Kongress der Molokanen stattfand.

Begriff Molokanentum
Es gibt verschiedene Theorien über die Entstehung des Begriffes Molokanen­tum:
Die erste Version geht davon aus, dass Orthodoxe Christen die Anhän­ger dieser Bewegung „Milchtrinker” nannten (auf Russisch heißt Milch „Moloko“), denn in der Fastenzeit war es den Orthodoxen untersagt, Milch zu konsumieren, was aber für die Molokanen kein Verbot darstell­te;
Die zweite Version hat mit dem Ansiedlungsort der Molokanen am Fluss Molotschnaya (Milchfluss) zu tun;
Die Molokanen selbst beschreiben ihre Religion mit Attributen von Milch: die weiße Farbe steht dabei für Sauberkeit.

Spirituelle Christen
Wie bereits erwähnt, sind Molokanen spirituelle Christen. Worin aber diese Spirituali­tät begründet liegt und welche Besonderheiten diese religiöse Strömung ausmachen, werde ich im Folgenden kurz zusammenfassen:

Die Taufe bei den Molokanen ist ohne Wasser begleitet und wird spirituell durchgeführt;
Molokanen haben keine Kirche, es gibt stattdessen ein bescheidenes Gebets­haus;



In der molokanischen Gemeinde gibt es keinen hierarchischen Rang, alle sind gleich;
Sie geben und machen kein Opfer, außer in spirituellen Ritualen;
Sie akzeptieren und haben keinen Vermittler zwischen dem Gott und den Gläubigen;
Sie akzeptieren kein Kreuz, keinen Tempel, keine Ikonen;
Beim religiösen Dienst benutzen sie keine religiösen Dinge, die bei klassi­schen Christen der Fall sind;
Sie lesen aber die Bibel;
Sie dürfen keinen Alkohol, kein Schweinefleisch und keinen Tabak konsumie­ren;
Die Frauen sollen Kopftuch und Männer den Bart tragen;
Es ist Molokanen untersagt, an feierlichen Veranstaltungen teilzunehmen;
Die Fastenzeit für Molokanen beschränkt sich auf den Leidensweg von Jesus.

Tradition und Bräuche der Molokanen
Die Molokanen achten konsequent auf die Traditon ihrer Vorfahren und geben diese weiter, sodass auch nach 200 Jahren alle Regeln fortbestehen. In der Familie gibt es eine hierarchisch-patriarchalische Rangfolge, denn junge Familienmitglieder und Frauen sollen ältere und männliche Angehörige stets respektieren. Der Älteste fungiert dabei quasi als Schiedsrichter.
Äußerst selten kommt es in molokanischen Familien zur Scheidung, diese ist verboten und wird mit Schande verbunden. Ohne den Segen der Eltern dürfen die Kinder keine wichtigen Entscheidungen fällen, so z.B. dürfen sie auch nicht heiraten. Eine Heirat ist das wichtigste Ereignis im Leben der Molokanen. Die Dauer der Hochzeitsfeierlichkeiten beträgt mindestens einen Monat und kann in einigen Fällen sogar noch mehr Zeit in Anspruch nehmen. Das Ritual der Verlobung wird vom Priester durchgeführt. Die Vorbereitung auf eine Hochzeit dauert sehr lange. Die Braut soll vorab beispielsweise ein Tuch sticken. Bei der Eheschließung müssen bei­de Partner gleicher Religion, also Molokanen, sein. Die Hochzeit beginnt mit dem Ritual „Erkennen”, in dem Verwandte des Bräutigams zum Haus der Braut kommen, um ihre Eltern kennenzulernen und den Termin der Hochzeit festzusetzen. Beim Frei­en bringt die Braut ihr gesticktes Tuch mit und bekommt dafür den Brautpreis, mit dem sie das Brautkleid sticken kann. Normalerweise wird die Hochzeit sehr feierlich gestaltet und dauert drei Tage. Bei der Hochzeit singen die Molokanen Psalme.
Laut Tradition sollen die Molokanen sonntags das Gottesgebet durchführen und danach ihre Verwandten besuchen und gemeinsam speisen. In der kulinarischen Tradition spielen Ofen und Samowar eine wichtige Rolle für die Molokanen. Viele Spezialitäten werden im Ofen zubereitet und Tee, der stets im Samowar serviert wird, offenbart die besondere Vorliebe zu diesem Heißgetränk. Molokanische Familien züchten normalerweise Rinder, Schafe und Geflügel, da sie über eine Vielzahl von Familienmitgliedern verfügen und diese ernähren müssen. Aus der Milch und dem Fleisch stellen die Molokanen unterschiedliche Lebensmittel her (bspw. Büchsenfleisch, Käse, Quark, saure Sahne usw.).



Lapscha (Nudel) ist das Leibgericht der Molokanen, das oft bei Hochzeiten oder auch Beerdigungen serviert wird. Neben Lapscha werden gleichzeitig auf den oben er­wähnten Zeremonien gebratene Pommes mit Büchsenfleisch angeboten.



Molokanen in Aserbaidschan
Ivanovka
Während meiner letzten Reise nach Aserbaidschan besuchte ich wie üblich mein Heimatdorf Ivanovka und zusätzlich den Heimatbezirk meiner Eltern in Kedabek. Während meines Aufenthaltes hatte ich die Möglichkeit vor Ort einige Molokanen zu treffen und mit ihnen Gespräche zu führen. In Ivanovka im Ismailli Bezirk traf ich den Priester der molokanischen Gemeinde Prokofjev Vasilij Terentjevich und führte mit ihm ein spannendes Interview. Beim Gespräch erzählte der Priester von der Umsied­lung der Molokanen in den Kaukasus, die Gründung des Dorfes Ivanovka und das Bestehen des Molokanentums in der Sowjetzeit. Beim Interview erwähnte Herr Pro­kofjev, dass sich das Molokanentum von den Orthodoxen komplett unterscheidet, so­gar einige religiöse Rituale eher dem Islam ähneln. Der Priester bedauerte zudem, dass die jüngere Generation die Ideen des Molokanentums nicht mehr gründlich nachverfolgt und kritisierte die Konvertierung ihrer religiösen Anschauungen in Russ­land.



Meine nächste Gesprächspartnerin war meine Deutschlehrerin Jidkova Tatjana Timo­fejevna. Sie sprach über die Bräuche ihrer Vorfahren und argumentierte insgesamt weniger kritisch über die Jugend, die zum orthodoxen Glauben konvertierte, denn sie müssten sich an die neue Gesellschaft anpassen. Frau Jidkova zeigte weniger Skep­sis gegenüber dem aktuellen Zustand des Molokanentums in Ivanovka und teilte mit, dass im Dorf für Kinder und Jugendliche sogar Lehren durch ältere Personen angeboten werden. Bei diesem angenehmen Gespräch betonte Tatjana Timofejevna, dass Aserbaidschan für seine Toleranz und den Multikulturalismus bekannt ist und dass es allen Völkern, darunter auch den Molokanen in Aserbaidschan wohl ergehen sollte.

Das Dorf Ivanovka ist das einzige große Dorf in Aserbaidschan, wo die Molokanen geblieben sind. Die Bevölkerung des Dorfes liegt über 4000, darunter zwei- bis dreitausend Molokanen (Diese Zahl ist aber nur geschätzt, denn unter den ansässigen Molokanen gibt es viele, die zu den Baptisten und Orthodoxen konvertierten).
Kedabek

Die in Kedabek gegründeten russischen Dörfer wurden nicht alle durch Molokanen geprägt. Nach meinem Wissen gab es in Kedabek folgende russische Dörfer: Slavj­anka, Saratovka, Ivanovka und Michajlovka. Michaylovka existiert heute nicht mehr. Die Namen der Dörfer Saratovka und Ivanovka wurden durch die Vorsilbe „Novo“ (russ.: „neu“) in z.B. Novo-Saratovka geändert.



Während meines Aufenthaltes im Dorf Novo-Saratovka traf ich auch den Leiter der russischen Gemeinde in Kedabek Nikolaj Bitschkov. Das Haus von Bitschkov wirkt wie eine Art Museum, denn er hat alle für seine Vorfahren wichtigen Dinge in gutem Zustand behalten und regelrecht ausgestellt.






Sein Haus besuchten sehr viele prominente Per­sönlichkeiten, unter denen sogar der Präsident von Aserbaidschan Ilham Aliyev und der Botschafter der Russischen Föderation in Aserbaidschan Herr Dorochin waren. Bei unserem Gespräch konnte ich herausfinden, dass in Kedabek ca. 220 Russen (Molokanen, Duchoborzen usw.) geblieben sind. Nikolay ist Vollblut-Molokaner und übt sehr strenge Kritik an denjenigen, die ihren Glauben „verraten“ haben. Nach dem Gespräch wurde mir nun auch bewusst, dass das Dorf Slavjanka durch die Ducho­borzen aus der Ukraine besiedelt wurde.




Ein kurzer Überblick über das Dorf Ivanovka:
Die Enstehung des Dorfes begann bereits im Jahre 1834. 1847 wurde das Dorf Iva­novka von Ivan Perschin gegründet. Im Jahre 1887 öffnete die erste öffentliche Schu­le.
Die Entstehung der Sowjetunion und Anschließung Aserbaidschans bedeutete für die Molokanen auch eine grundlegende Veränderung in der Form der Landwirtschaft, so wurde 1932 die kollektive Landwirtschaft (Kolchos) in Ivanovka implementiert. Die kollektive Landwirtschaft in Ivanovka unter der Führung Nikolaj Vasiljevitsch Nikitin war in der ganzen Sowjetunion bekannt und wurde auch als „Kolchos Millionär“ be­zeichnet. Nikolaj Nikitin, der Vorsitzende der kollektiven Landwirtschaft von Ivanovka, war gleichzeitig Abgeordneter des Obersten Sowjet der Aserbaidschanischen SSR und wurde im Jahre 1971 mit der Auszeichnung „Held der sozialistischen Arbeit“ ge­ehrt. Nikitin verstarb 1994, als Aserbaidschan bereits unabhängig geworden war und Kolchos trotzdem weiter funktionierte. Heutzutage herrscht in Ivanovka eine be­scheidene Landwirtschaft vor, die ansässige Produktion genießt in Aserbaidschan einen guten Ruf und ist allen bekannt. So werden in Ivanovka allerlei Milchproduke, Getreide, Sonnenblumenöl, Honig usw. produziert.



Das Dorf verfügt über ein Traktor- und Autodepot, Betriebe für Asphaltanlagen, Bau­ernhöfe für Rinder, Schafe, Geflügel, Schweine, sowie Betriebe für Milch- und Ölpro­duktion. Es gibt im Dorf zudem eine große Bäckerei, drei landwirtschaftliche Betriebe und eine Menge anderer Geschäfte. Im Dorf existieren zwei Hotels, es gibt einen großen Kulturpalast inklusive Konzertsaal mit einer Kapazität für 700 Besucher. Dar­über hinaus verfügt das Dorf über eine Schule, die für 700 Schüler vorgesehen ist, und einen Kindergarten, ein Klinikum, einen Fußballplatz, eine Schwimmhalle, viele nette Cafes.




Quelle:masimov.net

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