Politik aus dem Hotelfenster

  20 März 2017    Gelesen: 919
Politik aus dem Hotelfenster
Als den emotionalsten Tag seines Lebens empfand es Willy Brandt: Als erster westdeutscher Regierungschef reiste der Bundeskanzler 1970 in die DDR - und löste dort Szenen wie im Herbst 1989 aus. Für die SED wurde der prestigeträchtige Staatsbesuch zu einer Blamage.
Dicht gedrängt stehen mehr als 2000 DDR-Bürger am Vormittag des 19. März 1970 vor dem Hotel "Erfurter Hof" im Zentrum der Bezirksstadt in Thüringen. Sie haben die Volkspolizisten einfach beiseite geschoben und rufen: "Willy, Willy!" oder "Ha-ho-he, der Brandt der ist o.k." Dann stimmen immer mehr in den Ruf ein, der Geschichte machen wird: "Willy Brandt ans Fenster, Willy Brandt ans Fenster!"

Zunächst zeigt sich dort am Fenster im ersten Stock nur der Sprecher des westdeutschen Bundeskanzlers, Conrad Ahlers. Er winkt, doch damit gibt sich die Menge nicht zufrieden: "Willy Brandt ans Fenster, Willy Brandt ans Fenster!", hallt es durch die Erfurter Innenstadt - bis schließlich doch der Kanzler im Fenster eines runden Erkers erscheint.

Mit nach unten gesenkten Handflächen versucht der Staatsgast, die Menge zu besänftigen - um keinen Preis will Brandt auf seiner als Geste der Entspannung gedachten Visite seine ostdeutschen Gastgeber blamieren. Doch es ist nutzlos - die Menge jubelt ihm zu wie einem Retter. Brandt lächelt vorsichtig und nickt mit dem Kopf.

Winken und weinen

Die berühmt gewordene Fensterszene ist der Höhepunkt eines historischen Treffens, an das Menschen in beiden Teilen des seit 1945 zerschnittenen Landes große Hoffnungen knüpfen. Um 7.45 Uhr hatten Brandt und seine Entourage bei Bebra in einem zehn Waggons umfassenden Sonderzug die deutsch-deutsche Grenze überquert. In Gerstungen war ein Begrüßungskommando zugestiegen: Michael Kohl, Staatssekretär im DDR-Außenministerium und dessen Protokollchef Horst Hain.

Und schon die Bahnstrecke war gesäumt von DDR-Bürgern. Sie winkten aus Häusern, von den Dächern und aus Autos; sie wedelten mit Taschentüchern, schwenkten Blumensträuße und ließen Bettlaken flattern. "Tausende winken", notierte der Mitreisende Ulrich Kempski, Chefkorrespondent der "Süddeutschen Zeitung". "Tausende strecken ihre wie betend gefalteten Hände aus. Und viele, sehr viele weinen."

Auch wenn der Journalist sich hier im Reporterkitsch verhedderte - Gästen wie Gastgebern war gleichermaßen bewusst: Dieser 19. März war ein historischer Tag für die Deutschen. Zum ersten Mal seit der Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 und der DDR fünf Monate später standen sich die Regierungschefs der beiden deutschen Staaten von Angesicht zu Angesicht gegenüber; zum ersten mal sprachen sie miteinander statt übereinander.

Szenen wie aus dem Herbst 1989

Der Bahnsteig 1 des Erfurter Hauptbahnhofs war eigens mit einem neuen roten Teppich ausgelegt worden; in der Bahnhofshalle hing ein großes Banner mit der Parole: "Die DDR ist der deutsche Staat des Friedens und des Sozialismus." Um kurz vor halb zehn begrüßte Willi Stoph, Vorsitzender des Ministerrats der DDR, seinen westdeutschen Amtskollegen Brandt. Etwas steif wirkten die beiden zunächst, doch beim Plaudern über die Bedeutung Erfurts für die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie begann sich die Spannung zu lösen.

Dann geschah, womit die Organisatoren des delikaten Staatsbesuchs nicht gerechnet hatten - eine Szene, die eben so gut aus dem Herbst 1989 hätte stammen können: Als Stoph und Brandt, gefolgt von ihren Begleitern, über den Bahnhofsvorplatz zum "Erfurter Hof" schlenderten, durchbrachen mehr als 2000 DDR-Bürger die Vopo-Sperren und stürzten mit Jubel und Gebrüll den Delegationen nach. Nur mit Mühe konnten Polizei und Stasi-Kräfte in Zivil verhindern, dass die Menge ins Hotel stürmte.

Das erste offizielle Gespräch der beiden Delegationen dauerte zwei Stunden - wobei der Ausdruck "Gespräch" in die Irre führt. Denn zunächst trug SED-Mann Stoph in einem 58 Minuten langen Monolog die Position und Forderungen der DDR-Regierung vor, dann antwortete Brandt mit einem 43 Minuten langen Vortrag.

Hundert Milliarden für die DDR?

Stoph verlangte eine Entschädigung von hundert Milliarden Mark für die der DDR durch den westdeutschen "Wirtschaftskrieg" entstandenen Schäden. Den Bau der Mauer bezeichnete er als "Akt der Menschlichkeit", der "der Erhaltung des Friedens in Europa" gedient habe. Der SED-Politiker forderte immer wieder die vollständige völkerrechtliche Anerkennung der DDR und geißelte die "eindeutig aggressiven Pläne" der Bundeswehr.

Die Regierenden beider deutscher Staaten hätten die "Verpflichtung zur Wahrung der Einheit der Nation", entgegnete Brandt. Sie könnten die von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs betriebene Teilung Deutschlands nicht "ungeschehen" machen, aber sich bemühen "die Folgen dieser Teilung zu mildern."

Unter den Christdemokraten Konrad Adenauer und Ludwig Erhard hatte die Bonner Regierung stets beansprucht, Deutschland alleine zu vertreten. Für die sozialliberale Koalition, die 1969 an die Macht kam, hatte dann Brandts Vertrauter Egon Bahr unter dem Schlagwort "Wandel durch Annäherung" eine neue Ostpolitik entworfen, die auf Dialog setzte und der Realität Rechnung trug, dass die DDR sich in kaum über Nacht in Luft auflösen würde. Gleichzeitig sollten die Beziehungen verbessert und vor allem menschliche Erleichterungen gefördert werden.

"Bestellte Provokateure"

Als Brandt nach Erfurt kam, spielte die SED-Führung auf Zeit. Sie wollte abwarten, was die Verhandlungen ergeben würde, die Bahr als Staatssekretär parallel in Moskau über ein Gewaltverzichtsabkommen mit der UdSSR führte. Einen eigenen Weg zu gehen, konnten sich die an ihre begrenzte Souveränität gewöhnten DDR-Politiker nicht vorstellen.

Wie schwierig der deutsch-deutsche Dialog werden würde, hatte sich schon bei der Vorbereitung des Besuches gezeigt. Die DDR-Diplomaten schlugen vor, dass Brandt seinen Kollegen Stoph im Haus der Ministerien in Ost-Berlin treffe. Gleichzeitig wollten sie aber nicht, dass der Kanzler über West-Berlin mit der Bahn anreisen oder dort mit einem Flugzeug landen würde. Seine Maschine habe den Ost-Berliner Flughafen Schönefeld anzusteuern, meinten sie. So wurde Berlin schließlich als Treffpunkt verworfen und Erfurt kam ins Spiel - wo die Anführer des "Arbeiter- und Bauernstaates" dann vom Volk blamiert wurden.

Die Organisatoren versuchten zu retten, was zu retten war. Eilig ließen sie Schulklassen, Mädchenchöre und Betriebsbelegschaften aufmarschieren. Die riefen mit mäßigem Enthusiasmus: "Ob mit, ob ohne Willy Brandt, die DDR wird anerkannt." Oder auch: "Herr Brandt, wir geben Ihnen bekannt, hier ist das wahre deutsche Land."

Und am Abend enthüllte ein Kommentator des DDR-Fernsehens, am Morgen hätten "sich einige offensichtlich bestellte Provokateure eingefunden, die den Auftakt der Gespräche stören wollten". Das glaubten nicht einmal treue Kommunisten.

Schaurige Schüttelreime

Während vor dem Hotel die Claqueure ihren Dienst taten, sprachen Brandt und Stoph zweimal unter vier Augen miteinander. Es ging vor allem darum, eine produktive Atmosphäre für künftige Verhandlungen zu schaffen. Man einigte sich nur darauf, dass Stoph den Besuch bald erwidern und in die Bundesrepublik kommen sollte; als Ort des nächsten Gipfels wurde Kassel ausgewählt.

Als die beiden Regierungschefs im Schneegestöber den "Erfurter Hof" verließen, riefen "Linientreue", wie sie Brandt in seinen Erinnerungen nennt, den beiden noch einen schaurigen Schüttelreimversuch nach: "Hoch, hoch, hoch - es lebe Willi Stoph!"

Um 22.35 rollte der Sonderzug des Bundeskanzlers wieder in Richtung Westen, auf den Eisernen Vorhang zu. Der Besuch bei den Ostdeutschen hatte diplomatisch wenig, politisch jedoch sehr viel gebracht: Die Bilder aus Erfurt hatten vor aller Welt demonstriert, dass die Bürger der DDR sich als Deutsche fühlten und sich mit der Teilung des Landes und der kommunistischen Herrschaft nicht abfinden wollten.

Der Atem der Geschichte

"Der Tag von Erfurt", resümierte Willy Brandt in seinen 1989 erschienenen "Erinnerungen", "gab es einen in meinem Leben, der emotionsgeladener gewesen wäre?" Warum er nicht schon damals, im März 1970 in Erfurt erkannte, dass die Zweistaatlichkeit Deutschlands keinen Bestand haben konnte, war etwas, über das sich Brandt nach dem Fall der Mauer selbst wunderte.

Doch man kann Brandt vor sich selbst in Schutz nehmen - dass die Supermacht Sowjetunion, deren Soldaten die SED-Herrschaft garantierten, eines Tages kollabieren würde: Im März 1970 war das beileibe nicht abzusehen. Dennoch traf zu, was der Kommentator der "Frankfurter Allgemeinen" zum Treffen Brandt-Stoph zu Papier brachte: "Die Begegnung von Erfurt", schrieb er, war "vom Atem der Geschichte umweht".

Quelle : spiegel.de

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