Tatsächlich ist das Wahlergebnis bemerkenswert. Denn in Deutschland haben 63,1 Prozent der Türken, die an der Abstimmung teilgenommen haben, mit Ja gestimmt - also für ein autoritäres Präsidialsystem, das Recep Tayyip Erdogan noch mehr Macht gibt. In der Türkei waren es 51,4 Prozent.
Warum aber sympathisieren Türken in Deutschland offenbar stärker mit Erdogan als die Menschen in der Türkei? Warum ist hierzulande die Unterstützung größer als in Istanbul oder Izmir?
Zunächst muss klargestellt werden:
Das Ergebnis lässt keinen automatischen Schluss darüber zu, dass die Mehrheit der insgesamt knapp drei Millionen türkischstämmigen Menschen in Deutschland Erdogan-Fans sind. Nur 1,4 Millionen von ihnen waren überhaupt wahlberechtigt, weil sie den türkischen Pass haben. Und von ihnen wiederum ist weniger als die Hälfte überhaupt an die Urnen gegangen: Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 46 Prozent (in der Türkei bei mehr als 85 Prozent).
Völlig überraschend ist das Abstimmungsverhalten zudem nicht. Auch bei den türkischen Parlamentswahlen im November 2015 war unter den in Deutschland lebenden Türken die Zustimmung zur Regierungspartei AKP mit 60 Prozent größer als in der Türkei selbst. Die Wahlbeteiligung war damals unter den Deutschtürken noch geringer als diesmal.
Trotzdem ist jetzt die Diskussion über die Ursachen des Wahlverhaltens in vollem Gange. Dass rund 416.000 Menschen, die in Deutschland in Freiheit und Demokratie leben, dafür stimmen, dass in einem anderen Land ein autoritäres System eingeführt wird, scheint schwer nachvollziehbar.
Wirklich belastbare Daten, die etwas über die Gründe für das Wahlverhalten aussagen könnten, gibt es nicht. Welche Altersgruppen haben mehrheitlich für Erdogans Machtplan gestimmt? Welchen beruflichen Hintergrund haben die Ja-Wähler? Solche Erhebungen, wie wir sie von Wahlforschern hierzulande kennen, liegen offenbar nicht vor.
Um Erklärungen zu finden, müssen andere Informationen helfen: Erfahrungswerte, soziokulturelle Studien, Einschätzungen aus der deutsch-türkischen Community. Der Umstand, dass viele der vor Jahrzehnten eingewanderten türkischen Gastarbeiter aus ländlichen, konservativen Regionen stammten, reicht dabei wohl kaum aus.
Welche Erklärungsansätze gibt es?
Oft genannt wird der Diskriminierungsfaktor, ein Gefühl, das in Umfragen sogar die Mehrheit der Deutschtürken beschreibt: Sie hätten sich für das Präsidialsystem entschieden, weil sie sich in Deutschland schlecht behandelt fühlten. Diesen Aspekt nennt auch der Chef der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu. "Sie wollten dadurch Protest zum Ausdruck bringen gegen das, was sie seit Jahrzehnten aus ihrer Sicht hier empfinden", sagte Sofuoglu dem SWR.
Die CDU-Bundestagsabgeordnete Cemile Giousouf hält diese Begründung für nicht akzeptabel: "Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Das kann nicht als Rechtfertigung herhalten, um für ein autoritäres System zu stimmen, in einem Land, indem man selbst nicht lebt." Ähnlich sieht es der Duisburger SPD-Bundestagsabgeordnete Mahmut Özdemir: "Ich erwarte von Menschen, die in Deutschland Kindergarten, Schule, Ausbildung oder Universität genossen haben, Dankbarkeit" - außerdem "ein klares Bekenntnis zum Grundgesetz und Anstrengungen, sich hier zu integrieren".
Das Gefühl, diskriminiert zu werden, weist darauf hin, dass die Integration nicht gelungen ist - an wem auch immer das liegt. Tatsächlich sind bei Deutschtürken die Integrationsprobleme besonders groß. Grünen-Chef Cem Özdemir erklärte im Deutschlandfunk: Wer wolle, dass die Zahl der Erdogan-Anhänger zurückgeht, der solle sich "Gedanken drüber machen, was wir in der deutschen Bildungspolitik ändern müssen, damit Kinder, die in Deutschland auf die Schule gehen, erfolgreicher werden".
Einer der Gründe für das Wahlergebnis unter den Deutschtürken könnte sein, dass das Ja-Lager ähnlich wie in der Türkei auch hierzulande stärker mobilisiert hat - mit mehr Geld und der Macht regierungsnaher Medien im Hintergrund.
"Eine Rolle gespielt haben könnte auch, dass es in Deutschland kaum unpolitische Initiativen gab, bei denen sich die Menschen neutral über das Referendum hätten informieren können", sagt die CDU-Politikerin Giosouf. Ein Großteil der Wähler - egal ob Ja- oder Nein-Lager - habe gar nicht über den Inhalt des Referendums Bescheid gewusst. Man dürfe auch die Rolle konservativer Moscheegemeinden nicht unterschätzen, meint Lale Akgün, frühere SPD-Bundestagsabgeordnete aus Köln.
Hinzu kommen regionale Besonderheiten, etwa die soziokulturelle Zusammensetzung der Migrantengemeinden, die in Berlin anders ist als im Ruhrgebiet. Das spiegelt sich in den verschiedenen Wahlergebnissen wider. In Berlin etwa, wo die Ja- und Nein-Lager fast gleichauf liegen, gelten Erdogan-kritische Gruppen als besser organisiert. So gibt es in der Hauptstadt einen Ableger der türkischen Oppositionspartei CHP.
Bülent Arslan, früher Vorsitzender des Deutsch-Türkischen Forums der CDU und heute Politikberater, verweist auf einen weiteren Faktor: "Türken in Deutschland kommen aus einer Kultur, in der die emotionale Identifikation mit dem Heimatland sehr ausgeprägt ist. In Deutschland herrscht hingegen eher ein nüchterner, sachlicher Zugang zum Land." Auf diese Suche nach emotionaler Bindung gebe Deutschland keine Antwort. "Das ist erst einmal nur eine Analyse und bedeutet nicht, dass ich dafür plädiere, dass sich der nüchterne Zugang in Deutschland ändert."
Andere regen aber genau das an: "Wir brauchen eine Strategie, die zum Ziel hat, Kopf und Herzen der Deutschtürken zu erreichen", so Grünen-Chef Cem Özdemir. Psychologe Kazim Erdogan, der in Berlin-Neukölln türkische Vätergruppen leitet, wünscht sich etwa, dass die deutsche Politik Veranstaltungen organisiert, die Ja- und Nein-Sager zum Austausch lädt.
Das alles zeigt: Die möglichen Gründe für das Wahlverhalten sind vielschichtig - die politischen Reflexe aber sind bereits aktiviert. Wohl auch, weil sich Deutschland schon im Vorwahlkampf befindet. Unions-Innenexperte Stephan Mayer (CSU) mahnte umgehend strengere Regelungen beim Doppelpass an. Der Widerspruch folgt prompt: "Es interessiert mich nicht, dass die Menschen zwei Pässe haben, sondern dass es auch in der dritten Generation so autoritäre Einstellungen gibt", sagt Bilkay Öney (SPD), ehemalige Integrationsministerin in Baden-Württemberg. "Wir brauchen mehr Demokratieerziehung an Schulen."
Andere plädieren dafür, den Islamverband Ditib schärfer ins Visier zu nehmen, türkische Imame aus deutschen Moscheen zu verbannen oder dem AKP-Lobbyverband UETD die Gemeinnützigkeit zu entziehen.
CDU-Politikerin Giousouf nimmt aber auch die Parteien in die Pflicht. Diese müssten "auch im Bundestagswahlkampf die Deutschtürken stärker in den Blick nehmen, ansprechen und insgesamt offensiver in die deutsche Parteipolitik einbinden. Sie sollen ihre politische Heimat in den deutschen Parteien finden."
Quelle : spiegel.de
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