Gysi führt den Niedergang dieser Sitte auf den Mauerfall zurück. Plötzlich seien "Westmänner" an die Ostsee gekommen und "teilweise mit einem pornografischen Blick" am Strand entlangspaziert. Daraufhin, so argumentiert Gysi und beruft sich auf die Sexualwissenschaft, hätten die Ostfrauen begonnen, sich mit Kleidung vor neugierigen Blicken zu schützen. Hinzu kämen Hotelinvestoren, die Nackte vor der Tür als geschäftsschädigend empfänden und sie vertreiben wollten.
Jeder soll in Prerow entspannen können
Der 69-Jährige findet das schade, "denn die Freikörperkultur hatte Niveau". In Vorpommern lässt sich begutachten, was Gysi wohl im Sinn hat: An schönen Sommertagen sonnen sich dort immer noch zahlreiche FKK-Freunde im Sand. Bikinistreifen? Nicht in Prerow, das stolz ist auf seine 50-jährige FKK-Tradition. Während sich in anderen Ferienorten vor allem Frauen die leicht unangenehme Frage stellen, ob der alte Badeanzug noch passt, urlaubt es sich in Prerow ganz unbeschwert: Jeder soll sich dort entspannen können, ganz egal welcher Statur oder welchen Alters.
Knapp drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung gleichen sich die Deutschen einander auch in Fragen der Freizügigkeit an. Die FKK-Begeisterung kühlt erkennbar ab. "Wie alle Vereine verlieren auch die 150 FKK-Vereine in Deutschland Mitglieder", warnt der Verband für Freikörperkultur schon seit Jahren. "Bei uns sind das jährlich etwa drei Prozent."Einer, der diese Urlaubsform akademisch begleitet, ist Professor Konrad Weller, Sexualwissenschaftler an der Hochschule Merseburg in Sachsen-Anhalt. Die jungen Leute könnten mit dem Freikörperkult nichts mehr anfangen, sagt er.
Viele Jugendliche sind gegen FKK
Schon 1990 hat die Hochschule die ostdeutsche Lust am Nacktsein untersucht. Ergebnis: FKK gehörte zwischen Darß und Thüringer Wald zur kulturellen Identität. Nur 15 Prozent der ostdeutschen Jugendlichen gaben damals an, mit FKK nichts am Hut zu haben. Ein knappes Vierteljahrhundert später wiederholte die Hochschule die Befragung unter Heranwachsenden. Inzwischen haben sich die Ansichten komplett gedreht. Die meisten Jugendlichen sagen mittlerweile, es sei für sie absolut undenkbar, sich an einen Nacktbadestrand zu legen.
Die kollektive sommerliche Entkleidung sei eine "Ventilsitte" in der DDR gewesen, so Weller: Mochte das Regime noch so viel reglementieren, wenigstens die textile Frage war Privatsache. Das schleichende FKK-Ende beschäftigt auch andere Forscher. Der emeritierte Professor Kurt Starke, bis 1990 Leiter des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung, spricht in Interviews gerne von Heuchelei: "Auf der einen Seite gibt es eine Omnipräsenz und Überfülle des Sexuellen in der Öffentlichkeit, und auf der anderen Seite verstärkt sich das Nacktheitstabu."
Beim Freikörperkult geht es nicht um Erotik
In der Werbung, im Fernsehen, im Internet – nackte, haarlose, optimierte Körper sind längst überall und prägen eine neue Prüderie. Wer sich sorgt, ob wirklich jedes Körperhaar sauber wegrasiert ist, fühlt sich an Orten wie Prerow fehl am Platz.
Andererseits sorgen sich Eltern, ob es unanständig wirken könnte, mit ihren Kindern in die Badewanne zu gehen. "Das ist sowas von entwürdigend für die Gesellschaft", schimpft Sexualwissenschaftler Starke. Wer heute im Internet nach FKK sucht, stößt schnell auf Anzeigen aus dem Rotlichtbereich. Nacktheit als Synonym für Erotik. Dabei weiß jeder, der je an einem Nacktbadestrand war, dass die völlige Hüllenlosigkeit vieles ist, aber selten stimulierend. Auch Gregor Gysi sagt: "So ein Bikini kann viel erotischer als FKK sein."
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