Marta Domingo, 54, ihr Ehemann Jose Nonell, 59, und viele Angehörige haben sich wochenlang engagiert für die katalanische Unabhängigkeit. Sie sind für ihren Traum von einem neuen Staat auf die Straßen von Barcelona gegangen, wieder und wieder, haben Freunde und Nachbarn, Bekannte und Verwandte ermuntert, es ihnen gleichzutun.
Sie haben am Referendumstag im strömenden Regen ihr Wahllokal im Stadtteil Poblenou "bewacht", haben sich mit Hunderten anderen den Polizisten entgegengestellt, welche die Schule dichtmachen sollten. Und am Freitag, als das Regionalparlament um 15.27 Uhr die Unabhängigkeit proklamierte, haben sie angestoßen auf die "República Catalana". Mit Cava, dem katalanischen Schaumwein.
Es herrscht Ratlosigkeit
Am Freitag haben Hunderttausende Independentistas gefeiert: auf den Straßen oder zu Hause. Am Wochenende haben die Unabhängigkeitskämpfer sich erholt von den turbulenten, rauschhaften Wochen, haben ausgeschlafen, sich an den Strand gelegt oder die Ereignisse Revue passieren lassen. Aber in den ersten Tagen der neuen Woche plagt fast alle dieselbe Frage: Was nun?
Viele Independentistas sind ratlos. Denn der spanische Zentralstaat hat die Kontrolle in Barcelona übernommen. Ohne jegliche sichtbare Gegenwehr prominenter Separatisten. Premier Mariano Rajoy setzt die katalanische Regierung ab und überträgt seiner Stellvertreterin Soraya Sáenz de Santamaría die Kontrolle über die Region. Das Parlament löst sich am Montag selbst auf. Auf dem Palau de la Generalitat, dem Amtssitz des katalanischen Ministerpräsidenten, weht nicht die Unabhängigkeitsflagge Estelada, sondern die Rojigualda, die rot-gelb-rote Fahne Spaniens. Kein einziger Staat hat die "Republik" bislang anerkannt.
Die beiden Chefs der katalanischen Regionalpolizei haben sich widerstandslos abberufen lassen. Ihre Mossos fahren am Montag mit gepanzerten Wagen vor der Generalitat auf. Ihr Auftrag: verhindern, dass die abberufenen Politiker und Beamten ihren alten Arbeitsplatz einnehmen. Aber Carles Puigdemont, der einstige Hausherr, lässt sich gar nicht blicken.
Ein Plan für die kommenden Wochen fehlt
Hat sich der ganze Trubel überhaupt gelohnt? Nur fünf Stunden nach der Unabhängigkeitserklärung hat Rajoy die Übernahme verkündet. Katalonien zahlt nun einen hohen Preis. So wenig Eigenständigkeit wie jetzt hatte die Region seit den Nachwehen der Franco-Diktatur nicht mehr. Madrid wird die Zügel wohl erst nach dem 21. Dezember wieder lockern. Dann, so hat Rajoy angeordnet, müssen die Katalanen neu wählen. Der Premier hofft, dass dann die Unitaristen gewinnen.
Die Separatisten werden Madrids Spiel mitspielen. Die Regierungsparteien ERC und PDeCat haben am Montag verkündet, wieder anzutreten. Und auch die Anführer der linksradikalen CUP rücken zunehmend von ihrer anfänglichen Idee ab, die Neuwahl zu boykottieren und stattdessen Protest-Paellas zu kochen. Die Separatisten-Parteien können und wollen sich nicht leisten, künftig außen vor zu bleiben. Vor allem aber brauchen sie dringend ein neues Projekt, für das sie ihre Anhänger mobilisieren können. Denn zurzeit, so wirkt es, sind sie planlos.
"Es wäre frustrierend, wenn jetzt nichts mehr kommen würde", sagt Marta Domingo. Und ihr Ehemann fordert: "In den nächsten ein, zwei Wochen müssen unsere Politiker etwas tun. Sonst heißt es, wir hätten das Handtuch geworfen." Die beiden wünschen sich, dass Puigdemont eine Art Schattenpräsident wird. Er solle Dekrete verkünden, als würde er noch regieren, er soll für die internationale Anerkennung Kataloniens werben und seinen Anhängern Mut machen.
Aber Puigdemont hat zu diesem Zeitpunkt das Land schon verlassen. Er weilt nun in Belgien. Zusammen mit fünf anderen abgesetzten Regierenden ist er im Auto über die Grenze nach Marseille gefahren und von dort aus nach Brüssel geflogen. Medienberichten zufolge erwägt die Gruppe, in Belgien Asyl zu beantragen. Hat doch die spanische Staatsanwaltschaft Anklage gegen Puigdemont und andere wegen Rebellion erhoben. Dem Ex-Premier drohen bis zu 30 Jahr Haft. Lässt Puigdemont sein Volk im Stich?
"Jetzt muss die Bewegung ihre Kräfte neu sammeln"
"Es wäre verständlich, wenn er versuchen würde, sich zu schützen", sagt Julia Vernet. Schon früher seien katalanische Führer ins Exil gegangen, "und haben dort die Republik verteidigt". Sie redet von der Zeit der Franco-Diktatur, lange vor ihrer Geburt. Die 21-jährige Philosophie-Studentin leitet die Jugendorganisation der ANC, einer der beiden führenden katalanisch-separatistischen Bürgerinitiativen.
Die Aktivistin, Wuschelkopf und braune Augen, lässt ihr Studium seit Monaten auf Sparflamme laufen, im Einsatz für die Republik. Julia Vernet hat Hunderte Stunden damit verbracht, Demos und Debatten zu organisieren, ihr Herzensanliegen zu propagieren und neue Aktivisten anzuwerben. Am Freitag hat sie während der Unabhängigkeitserklärung gemeinsam mit anderen jungen Separatisten den Hintereingang des Parlamentsgeländes bewacht: um sich im Fall der Fälle den spanischen Polizeieinheiten entgegenzustellen.
"Wir sind jetzt einen Schritt weiter als vorher. Uns war von vornherein klar, dass wir noch lange nicht am Ziel sind", sagt sie. "Jetzt müssen die Bewegungen ihre Kräfte neu sammeln. Und wenn sie Strategien entworfen haben und uns dann aufrufen, zu streiken, zu demonstrieren oder katalanische Institutionen zu beschützen, werden wir es tun."
Hoffnung Neuwahlen
Aber welche katalanischen Institutionen gibt es jetzt noch zu beschützen? Und wer sind "die Bewegungen"? Sowohl der ANC-Anführer Jordi Sanchez wie auch der Chef der zweiten Bürgerbewegung Omnium Cultural Jordi Cuixart sitzen in Untersuchungshaft. Puigdemont ist in Brüssel. Die Separatistenbewegung erscheint im Moment kopflos. Julia Vernet will sich davon nicht entmutigen lassen. Sie hat sich ein neues Ziel gesetzt: die Neuwahlen. Die, so hofft sie, könnten zum Plebiszit für die Unabhängigkeit werden. Einer Art Referendum, das Madrid nicht verhindert, sondern sogar fördert.
"Sie werden uns die Urnen und Stimmzettel diesmal herbringen", sagt Julia Vernet, "Es wird keine Verbote geben, keine gewalttätigen Versuche, unsere Abstimmung zu verhindern." Und wenn die Indepentistas dann gewinnen sollten, "dann weiß die ganze Welt, dass wir nicht eine Minderheit sind, sondern dass Katalonien diese Unabhängigkeit will."
Die Sache hat allerdings einen Haken: Laut einer aktuellen Meinungsumfrage der Rajoy-nahen Madrider Zeitung "El Mundo" sieht es nicht nach einer klaren Mehrheit für die Separatisten aus. Im Gegenteil: Die unitaristischen Parteien liegen sogar leicht vorne.
Julia Vernet ficht das nicht an. "Ich werde dafür kämpfen, dass alles anders kommt, als Rajoy sich das vorstellt", gelobt sie. Aber jetzt muss sie erst mal dringend nach Hause. In ein paar Tagen hat sie Prüfungen an der Uni. Und in den letzten Monaten hatte sie keine Zeit zum Büffeln.
Quelle : spiegel.de
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