Es soll die Geschichte einer Neuerfindung werden, vielleicht auch die einer Selbstfindung: Die Grünen wollen sich ein neues Grundsatzprogramm geben, die Debatte darüber startet jetzt. Das letzte Programm ist 16 Jahre alt. Damals regierten die Grünen noch mit, die Anschläge vom 11. September 2001 hatten die westliche Welt gerade erst aus der Zufriedenheit der Neunzigerjahre gerissen, und die Agenda 2010 war noch eine Idee von Peter Hartz.
Die Programmdebatte soll zwei Jahre dauern und wird an diesem Wochenende mit einem Startkonvent in Berlin beginnen. In der Parteizentrale ist dafür eigens eine neue Grundsatzabteilung für "Programm und Analyse" zuständig. Die Diskussionen sollen bis in den Herbst gehen, im Frühjahr 2020 soll der Prozess abgeschlossen sein und das neue Programm stehen.
Der Partei ist an ihrer Spitze ein Wechsel gelungen, von dem andere derzeit nur träumen können. Nach den gescheiterten Jamaika-Sondierungen herrscht Aufbruchstimmung, und die wollen die neuen Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck möglichst mit in die Grundsatzdebatte nehmen.
Eine neue Ära
Die Parteispitze, die seit Ende Januar im Amt ist, will nun eine neue Phase der Grünen einleiten. Sie kritisieren in ihrem Auftaktpapier, das dem SPIEGEL vorliegt, das Verhalten der eigenen Partei in den vergangenen Jahren. Seit man 2005 in die Opposition gehen musste, sei man in einer Art Spagat verharrt: auf der einen Seite Regierungspartei in vielen Ländern, auf der anderen Seite Oppositionspartei im Bund.
"Aber im Spagat kommt man nicht voran", schreiben die Chefs. Man brauche nun die gesamte Sprungkraft der Partei, um die neue, nach Protest-, Projekt- und Spagatpartei, "vierte Phase" der Grünen einzuläuten. Dabei wolle man die Chancen des technischen Fortschritts ergreifen und politische Fragen nicht auslagern. Es gehe ihnen nicht um "grüne Selbstvergewisserung", schreiben sie.
Das Papier der Grünen-Chefs gliedert sich in sechs Teilbereiche. Der erste widmet sich dem grünen Herzensthema Ökologie. Habeck und Baerbock fordern ein sozial-ökologisches Welthandelssystem. Sie wollen unter anderem über eine europäische Energieunion und eine ökologische Steuerreform reden.
Der zweite Bereich behandelt die Wirtschafts-und Sozialpolitik. Die Überschrift heißt "Der Mensch als Kapital oder das Kapital für die Menschen". Das zeigt schon: Habeck und Baerbock sehen als erste Priorität nicht die Freiheit des Marktes. Die Sozialpolitik der Grünen könnte unter den zwei Realo-Vorsitzenden eine linke Wendung erfahren. So schreiben sie: "Die inzwischen vorherrschende Art des Kapitalismus im Zeitalter der Digitalisierung ist in vielen Bereichen wieder eine primitive und zügellose, ähnlich der frühen Phase der Industrialisierung."
Die Lösung liegt in ihren Augen in einer Garantiesicherung, vor allem für Kinder und Jugendliche, aber man wolle auch über eine Garantiesicherung für alle diskutieren. Sie fordern außerdem neue Regeln für weltweit operierende Unternehmen.
spiegel
Tags: