Europawahl: Protestwahl im „Schicksalsjahr“ 2019?

  03 Mai 2019    Gelesen: 1080
Europawahl: Protestwahl im „Schicksalsjahr“ 2019?

Eine Studie hat festgestellt, dass sich viele Wähler bei der Europawahl von ihrer Ablehnung gegen bestimmte Parteien leiten lassen. Gleichzeitig wird sie von vielen Politikern zur „Schicksalswahl“ erklärt. Der Politologe Werner Patzelt erklärt im Interview, wie die kommende Wahl maßgeblich durch einen „gesellschaftlichen Großkonflikt“ geprägt ist.

Andrea Nahles, Spitzenkandidatin der SPD bei der diesjährigen Wahl zum Europäischen Parlament, betont, Europa stehe vor einer „Schicksalswahl“. Christian Lindner (FDP) antwortet auf die Frage, ob die Europawahl eine Schicksalswahl sei: „Auf jeden Fall“.

Auch Dietmar Bartsch, Vorsitzender der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, spricht von einer Schicksalswahl, und CSU-Mann Manfred Weber, der Präsident der EU-Kommission werden möchte, sieht 2019 als „Schicksalsjahr für Europa“.

„Ich bin immer vorsichtig mit großem Ausrücken“, sagt der Werner Patzelt, seit 1992 Gründungsprofessor des Instituts für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dresden,  im Sputnik-Interview. „Aber diese Wahlen werden durchaus etwas verändern. Zum einen dürfte in diesen Wahlen der europäische Rechtspopulismus im EU-Parlament noch mehr Fuß fassen als bislang schon. Das dürfte mit Aufspaltungen im bürgerlich-rechten Lager einhergehen. Zum anderen ist die EU selbst in einer wirklich großen Krise ihres Selbstverständnisses und ihres Zusammenhaltes. Das in einer Zeit, in der das EU-Parlament mehr Befugnisse hat als seine Vorgängerparlamente. Also: Es geht wirklich um etwas!"

Auch der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann-Stiftung, Aart De Geus, erklärte, die Wahlbeteiligung werde „für das Wahlergebnis und die Zukunft Europas entscheidend sein“. Seine Stiftung hat in einer Studie festgestellt, dass vor allem die Antihaltung gegenüber Parteien die Stimmung bei der Europawahl prägt. Patzelt erklärt:

„Dass man nicht positiv für etwas, sondern gegen etwas – eine Partei, eine Person, eine Politik – wählt, das ist üblich geworden und liegt neben anderen Ursachen auch an dem Aufkommen des Rechtspopulismus. Auf europäischer Ebene steht im Hintergrund ganz wesentlich, dass die meisten Bürger empfinden, dass die bisherigen Rezepte, nach denen europäische Politik gemacht wurde, in der Zukunft nicht länger tragfähig sind. Diese Rezepte waren: Gibt es eine Krise, dann stärken wir die Zuständigkeiten der Europäischen Union und rücken näher zusammen. Aus jeder Krise geht Europa dadurch gestärkter hervor, dass man einfach den eingeschlagenen Weg mit noch mehr Energie weiter geht.“

Viele Leute hätten den Eindruck, dass die EU an die Grenze ihrer Integrationsfähigkeit gelangt sei. Sie sei über die Immigrationspolitik gespalten, habe Zerrkräfte wirtschaftlicher Art innerhalb der Eurozone und die ersten Staaten hätten angefangen, sie zu verlassen.

Hinzu käme, dass die osteuropäischen Staaten nicht länger einsähen, sich dem westeuropäischen Konsens einfach unterzuordnen. Die Leute, so Patzelt, hätten den Eindruck: „Zwar wissen wir auch nicht, was richtig ist, aber wir wissen, dass dieses falsch ist, dass wir jenes nicht wollen, und so entsteht das Wählen als ein Antiwählen.“

Dass Leute, die Protest zum Ausdruck bringen wollen, sich leichter mobilisieren lassen als Leute, die mit dem bestehenden Zustand zufrieden sind, sei allerdings ein altbekanntes Bild, erläutert Patzelt. Sollten die extremen Parteien an den Rändern stärker werden, sei nicht auszuschließen, dass im EU-Parlament die bisherige Integrationsleistung nicht mehr so gelinge wie bisher:

„Wenn klar den Status Quo mit Protest überziehende Parteien gewachsen sind, wenn die nationalen Interessen immer unterschiedlicher werden, und wenn die EU sich weniger mit Formelkompromissen aus aktuellen Problemen herausziehen kann, dann wird nicht auszuschließen sein, dass das EU-Parlament seine Rolle als Integrationskraft nicht länger wird richtig spielen können.“

Dass die Parteien der Mitte, aller Voraussicht nach, Sitze im EU-Parlament verlieren werden, liegt laut Patzelt daran, dass sie das „Migrationsproblem“ so groß haben werden lassen. Nun sei  die Europawahl,  wie alle Wahlen der letzten und kommenden Jahre, „ ganz wesentlich grundiert von den alltagspraktischen Auswirkungen der europäischen ‚Nicht-Migrations-Politik‘“. Politikwissenschaftler Patzelt schließt:

„Dieses Thema ist etwas, was einen neuen gesellschaftlichen Großkonflikt markiert, den Konflikt um die Rolle von Nationalstaaten, nationaler Kultur, nationaler Bevölkerungspolitik und so weiter. Dieser Großkonflikt schichtet überall die europäischen Parteiensysteme um – und so eben auch im Europäischen Parlament.“

sputniknews


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