Ich weiß, dass in der transparenten Flüssigkeit Eiweißmoleküle gelöst sind, die im Körper des Kranken den Krebs blockieren sollen, sodass die Abwehrzellen des Patienten ihn erkennen und bekämpfen können. Immuntherapie nennen das die Mediziner. Viele sagen, aus dem Beutel fließe die wichtigste Neuentdeckung der Krebsforschung seit zwei Jahrzehnten: nein, kein Wundermittel – aber für etliche Krebspatienten eine Riesenhoffnung.
Ich weiß auch, dass in dem Beutel 4.337 Euro gelöst sind. So viel berechnet der Hersteller für eine Dosis Opdivo. Alle zwei Wochen bekommt der Patient einen Beutel verabreicht. Ein Behandlungsjahr kostet also rund 100.000 Euro. Was aussieht wie Wasser, ist die teuerste Flüssigkeit, die ich je vor Augen hatte. Sie treibt die Medizin – und uns alle – in ein gewaltiges Dilemma.
"Diese neuen Wirkstoffe können Fortschritt bedeuten", sagte mir der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem. "Aber Medikamente wie diese stellen uns vor eine Grundfrage: Wie viel ist die Gesellschaft bereit, für die Hoffnung auf längeres Leben zu zahlen?"
"Am Ende", konstatierte Professor Wolf-Dieter Ludwig, Chefarzt der Krebsmedizin der Berliner Helios Kliniken, "geht es auch darum: Wir müssen gemeinsam entscheiden, ob wir bereit sind, jeden Preis zu zahlen – auch wenn wir wissen, dass die meisten dieser Medikamente nicht heilen, sondern das Leben im Schnitt um wenige Wochen bis Monate verlängern."
Und eine Chefärztin, die anonym bleiben will, mahnte: "Wir müssen die Diskussion darüber jetzt führen. Der Berg der geburtenstarken Jahrgänge liegt noch vor uns. Wir sollten uns darüber geeinigt haben, was wie bezahlt wird, bevor diese Alterskohorte alt und immer kränker wird. Sonst kollabiert das System."
An diesem Morgen blicke ich in Heidelberg ratlos auf die Infusion: Was rinnt da in die Vene? Ein Medikament, das uns hoffen lässt? Oder eines, das unser solidarisch finanziertes Gesundheitssystem Tropfen für Tropfen vergiften wird? Hightech-Medikamente wie Opdivo stellen uns vor eine ethische Frage, der wir auf Dauer nicht ausweichen können: Was ist der Preis des längeren Lebens? Wie hoch darf er sein? Unendlich, mag man versucht sein zu sagen. Wenn einer werdenden Großmutter noch ein Tag mehr bleibt und sie so ihren Enkel noch zu Gesicht bekommen kann, wenn ein Ehemann noch zwei Wochen hat, um die Hand seiner Frau zu halten, eine Schwester noch einen Monat, um endlich ihrem abtrünnigen Bruder zu verzeihen – sollte man dafür nicht bereit sein, jedes Geld der Welt zu zahlen? Oder macht man es sich damit zu leicht? Ist wirklich jeder Preis gerechtfertigt? Selbst wenn klar ist, dass ein endendes Leben mit einem Zehntausende Euro teuren Medikament nur um Tage, vielleicht Wochen verlängert werden kann? Wenn das Geld dann an anderer Stelle bitter fehlt? Sind Mittel nicht immer auch endlich?
Gehen wir fünf Monate zurück. Alles begann an einem Sommertag. Ich traf mich mit einem Bekannten, er ist Krebsarzt in einem großen Klinikum und sah an diesem Tag ein bisschen müde aus. Ein seltener Anblick. Meist sieht er todmüde aus. Seine Station ist unterbesetzt.
Er sagte: "Bei uns ist was los!"
Ich sagte: "Wie immer."
Er: "Das meine ich nicht. So etwas habe ich noch nie erlebt. Es werden gerade derart teure neue Medikamente zugelassen, dass ich an manchen Tagen Arzneimittel in Höhe meines Jahresgehalts verschreibe."
Danach beugten wir uns mehrere Abende lang über Zulassungsstudien und Verschreibungslisten. Ich wollte verstehen, "was gerade los ist", begreifen, wieso er Zehntausende Euro pro Tag "verschreibt" – "sprunghaft mehr als je zuvor".
Ich sprach weitere Onkologen. Gesundheitsökonomen. Branchenanalysten. Und alle teilten die Diagnose meines Medizinerfreundes:
In diesen Monaten bringen Pharmafirmen reihenweise Medikamente wie Opdivo auf den Markt, die alle bekannten Preisgrenzen sprengen. Manche dieser Arzneimittel könnten Todkranke dauerhaft heilen, manche versprechen einige Wochen Linderung und Lebensqualität, bei wieder anderen ist der Nutzen zweifelhaft. Nur eins eint sie: Ihre finanziellen Nebenwirkungen für das Gesundheitssystem sind gewaltig.
Der berühmteste Fall ist sicher Sofosbuvir, vermarktet unter dem Namen Sovaldi, ausgeliefert in einem schlichten Plastikdöschen voll länglicher Pillen. Menschen, die mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert sind, schlucken eine am Tag. Zwölf Wochen lang. Das klingt überschaubar. Bloß kostet momentan eine einzige Pille 637 Euro. Das sind 53.566 Euro pro Behandlung.
Das bislang teuerste Medikament ist Glybera, eine Gentherapie, die verspricht, Patienten zu helfen, die an einer ererbten Stoffwechselerkrankung leiden. Verkauft wird das Mittel in halbfingergroßen Ampullen zum sagenhaften Stückpreis von 53.781 Euro. Ende Oktober 2015 haben Ärzte der Charité Glybera erstmals in der empfohlenen Dosis von 40 Ampullen gespritzt. Kosten der Behandlung: etwa eine Million Euro.
Und da sind noch all die Arzneimittel, die mein Medizinerfreund verschreibt und die durch den Infusionsschlauch in Heidelberg laufen: die neuen Krebsmedikamente.
Fast im Monatstakt entlässt die europäische Zulassungsbehörde neue Wirkstoffe in beschleunigten Verfahren auf den Markt: Immuntherapien, aber auch Arzneimittel, die verheißen, "zielgerichtet" gegen die Mutationen in den Krebszellen zu wirken. Glaubt man den Experten, kosten die neuen Therapien im Schnitt zehn- bis vierzigmal so viel wie die alte Chemotherapie, die sie ersetzen.
Lipoproteinlipase-Defizienz – jene Erbkrankheit, gegen die das sündhaft teure Glybera wirken soll – ist ausgesprochen selten. In ganz Deutschland sind nur zehn Fälle bekannt. Auch gibt es jährlich nicht mehr als schätzungsweise 5.000 Neuinfektionen mit Hepatitis C. An Krebs aber erkranken hundertmal so viele Menschen: 500.000 neue Fälle waren es allein 2014. Krebs – die Krankheit der alternden Gesellschaft. "Es gibt zwei Dinge, die sicher sind", sagt der Berliner Krebsspezialist Ludwig: "Auch in den nächsten Jahren wird die Onkologie das Gebiet sein, in dem die meisten neuen Arzneimittel auf den Markt kommen. Außerdem wird die Onkologie auch in fünf Jahren, ebenso wie heute, die Indikation sein, mit der die Pharmaindustrie die mit deutlichem Abstand höchsten Umsätze erzielt – bereits im Jahr 2018 weltweit schätzungsweise 120 bis 140 Milliarden US-Dollar."
Die Pharmafirmen, so beschreiben es Analysten der Unternehmensberatung McKinsey, haben ihre Strategie geändert: Sie forschen weniger und konzentrieren sich auf Krankheiten, die vor allem uns, die Bürger der alternden vermögenden Industrienationen, treffen – die also große Gewinne versprechen. Neben Krebs sind das Autoimmunerkrankungen wie Rheuma und multiple Sklerose und natürlich Alzheimer. Im Sommer 2015 gab es Indizien, dass man hier in der Entwicklung eines Wirkstoffs vorangekommen sei. Sofort schnellten die Aktien des Forschungsunternehmens in die Höhe.
Also wird in diesem Bereich wohl einer der ganz großen Kämpfe der Gesundheitspolitik ausgetragen werden: Schafft es das Solidarsystem, die Kosten für alle auf Dauer zu schultern? Oder müssen wir Grenzen setzen und festlegen: Ein Medikament, das nicht heilt, aber vermutlich Leben verlängert, darf einen hohen Preis haben, aber nicht jeden. Und nicht für jeden.
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