Wann beginnt Krankheit? Und was bedeutet Gesundheit heute überhaupt?
Seit acht Jahren wehrt er sich nun gegen den Eingriff, widersteht den fürsorglichen Appellen seiner Ärztin. "Ich fühle mich gesund, Blutdruck, Cholesterin, alles unter Kontrolle, ich habe keinerlei Beschwerden und bin sehr glücklich mit meiner Frau." Wigbert Scholer, 68, hält inne: "Nur mein PSA-Wert spinnt rum."
Dieser Blutwert spinnt in der Tat ein bisschen – er liegt zwar nur knapp über den Normwerten, doch im schlimmsten, wenn auch ziemlich unwahrscheinlichen Fall könnte Scholer Prostatakrebs haben. Eine Gewebeprobe könnte Aufschluss geben, aber die möchte er vermeiden. Denn er weiß, dass auch sie oft keine abschließenden Ergebnisse liefern kann und, anstatt ihn zu beruhigen, sogar noch mehr verwirrt. Deshalb geht er lieber alle paar Monate zum Bluttest.
Herr Scholer heißt in Wirklichkeit anders. Er will nicht erkannt werden, denn seine Lage ist bedrückend. Doch er will auch sprechen, denn vielen Männern geht es ähnlich. Sie lassen ihren PSA-Wert bestimmen, um vorzusorgen, und geraten in gewaltige innere Konflikte. Denn mit dem Prostataspezifischen Antigen, kurz PSA, ist es so eine Sache. Erhöhte Werte weisen auf viele verschiedene, mitunter harmlose Zustände hin. Doch auch Prostatakrebs – die dritthäufigste Krebstodesursache bei deutschen Männern – geht meist mit einem erhöhten PSA-Spiegel einher.
Und so bieten viele Urologen den Test für 20 Euro als Krebsfrüherkennung an. Die gesetzlichen Kassen bezahlen die vorsorgliche Messung aber fast nie. Sie verweisen auf die besten wissenschaftlichen Daten, die weltweit zu haben sind. Und die zeigen: Der PSA-Routinecheck mit dem zusätzlichen Gewebetest führt haufenweise zu Fehlalarm und unnötigen Prostata-Eingriffen bei Männern, die zu Lebzeiten nie ein Problem mit diesem Tumor bekommen hätten. Mit großer Wahrscheinlichkeit wären sie nicht an ihm, sondern mit ihm gestorben – also mitsamt jenen unförmigen Zellverbänden in ihrer Vorsteherdrüse, die sich meist nur sehr langsam vermehren. In der Folge der Operation jedoch wird ein erheblicher Teil dieser Männer impotent, inkontinent oder beides. So schädigt die Medizin Menschen schwer – um einer Ahnung willen.
Scholer weiß das, und er versucht einen klaren Kopf zu behalten. Die Sorge, dass Krebs in ihm schlummern könnte, ist nicht leicht auszuhalten. In der zweiten Dezemberhälfte muss er wieder zum Bluttest. Ein weiterer schwerer Gang.
Ist ein Mensch mit einer derartigen Auffälligkeit krank oder gesund? Wann beginnt Krankheit? Und was bedeutet Gesundheit – bloß die Abwesenheit von Krankheit? Oder doch viel mehr? Was bringt es den Menschen, so viel von sich zu wissen? Und was ist wichtiger: das persönliche Befinden oder der messbare Befund?
Der PSA-Test steht beispielhaft für ein Dilemma in der modernen Medizin. Ärzte fahnden immer häufiger nach Früh- oder Vorformen von Krankheiten, nach Risiken, nutzen immer präzisere Labortests. Sie zerlegen Erkrankungen in feinere Einheiten, setzen Grenzwerte sicherheitshalber herab. Alles zusammen fördert eine schwer beherrschbare Menge von Daten und Diagnosemöglichkeiten zutage. Tomografen oder Bluttests auf zahlreiche Biomarker wie Gene, Proteine und Stoffwechselprodukte finden zunehmend Auffälligkeiten, minimale Abweichungen im Körper. Sie haben immer häufiger kaum Krankheitswert, ziehen womöglich aber eine Kaskade von Therapien und Eingriffen nach sich.
Jahrzehntelang brachte der vorsorgliche Blick auf Laborwerte großen Gewinn: Seitdem Ärzte Blutdruck, Cholesterin- und Zuckerspiegel systematisch messen und weit besser behandeln können, sind die Herz-Kreislauf-Todesfälle drastisch zurückgegangen. Ein wichtiger Grund dafür, dass die Menschen heute immer älter werden. Auch manche Untersuchungen zur Krebsfrüherkennung sind Erfolgsgeschichten: etwa der Pap-Abstrich, ein Zelltest bei Frauen. Nachdem er eingeführt wurde, halbierten sich die Todesfälle durch Gebärmutterhalskrebs in Deutschland.
Nun jedoch hat es den Anschein, als könnte Aldous Huxley recht behalten, der schon im Jahre 1932 die "schöne neue Welt" ausmalte: "Die Erforschung der Krankheiten hat so große Fortschritte gemacht, dass es immer schwerer wird, einen Menschen zu finden, der völlig gesund ist."
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