Als Mamadou Kouassi vor sechs Jahren nach Caserta kam, ahnte er nicht, dass er in der kleinen Stadt bei Neapel ein neues Leben finden würde: Er wusste nichts von seinem künftigen Job, von seiner neuen Liebe und einem Kind. Und er ahnte auch nichts von den Sorgen, die er sich heute machen würde, weil vieles von dem, was er sich aufgebaut hat, plötzlich wieder auf der Kippe steht.
Mamadou Kouassi, 36 Jahre alt, arbeitet im Centro Sociale. In Süditalien ist das Zentrum der wichtigste Orientierungspunkt für afrikanische Einwanderer. So erzählt es Francesco Caverio Caruso, Soziologe der Universität Catanzaro. Seit 2002 hat das Zentrum nach eigenen Angaben 12.000 vormals illegalen Einwanderern aus Afrika Aufenthaltsgenehmigungen besorgt - durch politischen Druck, durch bürokratische und finanzielle Unterstützung.
Kouassi ist einer von ihnen. Er stammt aus der Elfenbeinküste, nach langer Flucht hat er im Centro Sociale eine Arbeit gefunden.
Aber das Centro Sociale steht vor dem Aus. Große Teile des verabredeten Budgets für 2018 und 2019, insgesamt 1,2 Millionen Euro, fehlen. Das Zentrum betreibt seit 2007 maßgeblich ein staatliches Integrationszentrum zum Schutz von Asylbewerbern und Flüchtlingen, in Italien bekannt unter dem Kürzel SPRAR. 95 Prozent der jährlichen Kosten von 2.561.000 Euro muss das Innenministerium zahlen. Aber es zahlt nicht.
"Wir wissen nicht, wie lange wir noch ohne das Geld weitermachen können", klagt Centro-Mitarbeiterin Yassin Dia. Zudem leidet die Arbeit des Centro Sociale noch heute unter den Auswirkungen der Politik des ehemaligen Innenministers Matteo Salvini.
Salvini persönlich setzte sich einst an die Spitze des Kampfs gegen das von seinem eigenen Ministerium finanzierte Projekt. Nur 15 Monate dauerte seine Amtszeit, für Flüchtlingshelfer aber war sie katastrophal. Das Centro Sociale stand immer wieder im Mittelpunkt seiner Kritik.
Mittlerweile sitzt der rechte Salvini in der Opposition. Die populistische Fünf-Sterne-Bewegung regiert mit den Sozialdemokraten, das Innenministerium leitet inzwischen Luciana Lamorgese. Sie ist eine ausgewiesene Fachfrau für Migration, die wesentlich leiser auftritt als Salvini.
Doch im Umgang mit dem Centro Sociale zeigt sich, dass Italiens neue Regierung bisher längst nicht jede der harschen Salvini-Maßnahmen zurückgedreht hat. Wer sich im Centro Sociale umhört, bekommt ein Gefühl dafür, wie sehr Salvinis ausländerfeindliche Politik noch heute das Land bestimmt - und dass längst nicht klar ist, ob die neue Regierung den Mut hat, sie zu überwinden.
Neben dem Rathaus von Caserta, in einem Gewerkschaftsbüro, in das das Centro ausgewichen ist, drängen sich Männer aus Ghana, Nigeria und Guinea, vor dem Haus warten Frauen mit ihren Kindern. Viele sind von weit hergekommen, um sich in der Centro-Datenbank eintragen zu lassen. Maria-Rita Cardillo, 33, ruft Fragen in den lauten Raum, tippt die Antworten in ihren Laptop.
"Durch uns sind aus Geistern wieder Menschen geworden", sagt sie. Cardillo ist eine Mitarbeiterin des Zentrums und Mamadou Kouassis Freundin. 2013 haben sich die beiden im Centro Sociale kennengelernt, Ende 2018 kam ihr Sohn Angel Amy zur Welt. "In Caserta habe ich eine Familie und eine Heimat gefunden", sagt Kouassi.
Seine alte Heimat, die Elfenbeinküste, hatte Kouassi einst verlassen, weil dort ein blutiger Bürgerkrieg tobte. Mit seinen Eltern brach er ins Nachbarland Ghana auf, dann floh er weiter, durch die Sahara, wo Schleuser ihn auf dem Treck zurückließen und er beinahe verdurstete.
In Libyen von Gangs gejagt, ausgebeutet in Italien
In Libyen jagten ihn Gangs, die Polizei sperrte ihn ein, quälte und erpresste ihn. Auf dem Mittelmeer drang Wasser ins überfüllte Boot, er und die anderen Flüchtlinge wurden gerade noch gerettet.
Im November 2008 kam Kouassi in Italien an. Aber auch da musste er sich als illegal Eingewanderter vor der Polizei verstecken. In der Schattenwirtschaft auf den Äckern und Baustellen des Südens, so erzählt er, wurde er erbarmungslos ausgenutzt. Erst als Kouassi ans Centro Sociale geriet, nahm sein Martyrium ein Ende.
Heute arbeitet er hier als Mediator und Übersetzer. In Abidjan hatte er einst Linguistik studiert, nun vermittelt er auf Englisch, Französisch, Italienisch oder in einem der zehn afrikanischen Dialekte, die er beherrscht. Kouassis Geschichte klingt wie ein Märchen, doch womöglich könnte es bald enden - wenn das Centro schließen muss, verlieren er und seine Freundin ihre Arbeit.
Mit dem Aufstieg des Rechtspopulisten Matteo Salvini brachen auch für das Centro Sociale schwierige Zeiten an. Als Innenminister boxte Salvini ein Dekret durch, das für Seenotretter hohe Strafen bei der Einfahrt in italienische Gewässer vorsah. Ein weiteres Dekret schränkte humanitäre Aufenthaltsgenehmigungen massiv ein und erleichterte die Ausweisung von Migranten sowie die Räumung besetzter Gebäude.
So wurden den Helfern unter Salvini nicht nur das Geld, sondern auch die Räume in einer alten Hanfspinnerei, dem Ex Canapificio, genommen, dort waren sie seit Jahren zumindest geduldet. Ob der Minister die Räumung direkt verfügte, ist unklar, aber dass er sich dafür eingesetzt haben dürfte, scheint wahrscheinlich: Minuten nach der Räumung am 12. März jubelte Salvini bei Facebook: "Die Party ist vorbei."
Auch die Projekte des SPRAR, des staatlichen Integrationszentrums zum Schutz von Asylbewerbern und Flüchtlingen, mussten nun in neuen Räumen und teils im Freien stattfinden.
Der Innenminister von der rechten Lega hatte verfügt, dass nur noch den Menschen geholfen werden kann, die einen gesicherten Asylstatus haben. "Vorher konnten wir für 28 Prozent der Migranten Aufenthaltsgenehmigungen besorgen, danach nur noch für zwei Prozent", sagt Kouassis Freundin Maria-Rita.
Die Berufung der neuen Innenministerin Luciana Lamorgese wirkte wie ein klarer Bruch mit Salvinis radikaler populistischer Linie. Schließlich gilt sie als Technokratin, sie tritt wesentlich leiser auf. Und Lamorgese liefert erste Ergebnisse: Unter ihr dürfen einzelne Flüchtlingsboote wieder italienische Häfen anlaufen, die Regierung erreichte ein Abkommen, in dem die Verteilung von geretteten Flüchtlingen auf Staaten wie Deutschland und Frankreich geregelt ist, zumindest vorläufig.
Die Berufung der neuen Innenministerin Luciana Lamorgese wirkte wie ein klarer Bruch mit Salvinis radikaler populistischer Linie. Schließlich gilt sie als Technokratin, sie tritt wesentlich leiser auf. Und Lamorgese liefert erste Ergebnisse: Unter ihr dürfen einzelne Flüchtlingsboote wieder italienische Häfen anlaufen, die Regierung erreichte ein Abkommen, in dem die Verteilung von geretteten Flüchtlingen auf Staaten wie Deutschland und Frankreich geregelt ist, zumindest vorläufig.
"Die neue Regierung agiert wie gelähmt"
Aber das waren einzelne Maßnahmen, große Teile von Salvinis Erbe haben bisher überdauert. Migrationsexperte Maurizio Ambrosini vom Italian Institute for International Political Studies sagt: "Die Veränderungen sind vor allem im Stil und in der Sprache sichtbar. Ansonsten agiert diese Regierung wie gelähmt aus Angst vor der Reaktion der Rechten."
Sollte in Italien bald neu gewählt werden, könnte Salvini Ministerpräsident werden (Lesen Sie hier eine Reportage über seinen Dauerwahlkampf). Mit seinem harten Kurs gegen Migranten und NGOs stieg er zum beliebtesten Politiker Italiens auf. Durch das Ausscheiden aus der Regierung hat er kaum an Popularität verloren. Das Migrationsthema zieht noch immer, und Salvini bespielt es weiter.
Dazu kommt, dass die Fünf-Sterne-Bewegung, die weiterhin in der Regierung sitzt, einen Politikwechsel mittragen müsste. Danach sieht es unter ihrem Anführer Luigi Di Maio aber nicht aus. "Er hat selbst eine rechte Gesinnung", sagt Ambrosini. "Und die Gruppe um ihn hat in seiner Partei nun das Sagen."
Yassin Dia, die Mitarbeiterin im Centro Sociale, muss seit Monaten mit einem Minimallohn über die Runden kommen, oft auch ganz ohne Gehalt. "Keine Ahnung, wo die Überweisungen bleiben, Antworten bekommen wir keine", sagt sie. Auch eine Anfrage des SPIEGEL an das italienische Innenministerium blieb bislang unbeantwortet.
Die wichtigsten Ausgaben - für Medikamente, Lebensmittel oder die 20 Unterkünfte, in denen 130 Afrikaner untergebracht sind - können zurzeit noch durch Bankkredite und Spenden bestritten werden; 50.000 Euro kamen bei einer Crowdfunding-Kampagne zusammen.
Ohne das Geld des Innenministeriums ist die Zukunft des Centros in Caserta ungewiss. Dabei hatte die Einrichtung mit ihrer Arbeit nicht nur betroffenen Menschen, sondern auch dem Staat geholfen - nämlich im Kampf gegen die Schwarzarbeit.
In Süditalien, in Kampanien, Kalabrien oder Apulien, ist ein Tagelöhnersystem weit verbreitet, das sogenannte Caporalato. In diesem System werden vor allem Menschen ausgenutzt, die keinen geregelten Aufenthaltsstatus haben. Auch Mamadou Kouassi wurde auf den Feldern bei der Tabakernte ausgebeutet, musste bisweilen bei mehr als 40 Grad 15 Stunden im Akkord arbeiten - und bekam dafür 25 Euro.
Das Centro Sociale hat für diese Ausgebeuteten ein Ausstiegsprogramm aufgelegt. In Caserta bekommen sie eine Unterkunft und Verpflegung, können sich in einem regulären Job bewähren und schließlich eine Festanstellung bekommen. Im besten Fall besorgte das Zentrum ihnen auch eine Aufenthaltsgenehmigung.
"Salvini wollte eine künstliche Flüchtlingskrise erzeugen"
An dieser Arbeit habe Salvini allerdings kein Interesse gehabt, sagt Nando Sigona. Sigona stammt selbst aus Neapel und lehrt als Migrationsexperte an der Universität Birmingham. "Salvini hatte die Absicht, dass diese Menschen auf der Straße landen, er wollte sie sichtbar machen und so Panik in der Bevölkerung stiften", sagt er. "In einer Zeit, in der kaum noch Boote ankamen, wollte er eine künstliche Flüchtlingskrise erzeugen."
Sigona plädiert dagegen für rasche Schritte der neuen Regierung von Fünf-Sterne-Bewegung und Sozialdemokraten: "Die Migranten müssen schnell in den Arbeitsmarkt und in die lokalen Gemeinden integriert werden."
Genau das hat das Centro Sociale in Caserta bisher getan. Durch das Hilfsprogramm für die Migranten, die als Tagelöhner ausgebeutet wurden. Aber auch durch weitere Programme: In Caserta begleiten Migranten Schulkinder morgens zur Schule, sie beraten Einheimische in Bewerbungsprozessen oder sie gärtnern in öffentlichen Parks.
"Es geht darum, einen integrativen Rahmen zu schaffen", sagt Vincenzo Fiano, einer der Aktivisten. Früher habe Salvinis Lega-Partei - noch als Lega Nord - gegen die Süditaliener gehetzt, heute gehe es gegen die Flüchtlinge. "Am Ende müssen wir beiden helfen", sagt Fiano, "den Migranten und den armen Italienern."
Auch in Caserta wird sich zeigen, wie die neue Regierung mit Salvinis Erbe umgeht. Ob Luciana Lamorgese tatsächlich nur "eine Befehlsausführerin" ist, wie Maurizio Ambrosini schätzt, oder ob sie den Mut hat, das Wirken ihres Vorgängers rückgängig zu machen. Im Fall des Zentrums hieße das, das Projekt zu retten - und damit auch das neue Leben, das sich Mamadou Kouassi aufgebaut hat.
spiegel
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