Der tödliche Eindringling

  19 April 2020    Gelesen: 428
Der tödliche Eindringling

São Paulo ist das Epizentrum des Corona-Ausbruchs in Brasilien. Vielen Familien der Armenviertel fehlt es deshalb am Nötigsten. Sozialarbeiter kämpfen gegen falsche Informationen - etwa die, dass Wasser oder Schnaps gegen das Virus helfen.

Adriana de Santa läuft in diesen Tagen in ihrer Nachbarschaft von Haustür zu Haustür. Es sind kurze Wege, die sie dabei zurücklegen muss. In der Favela Peinha im Südwesten der brasilianischen Millionenmetropole São Paulo stehen schmale Häuser dicht an dicht. Viele sind zwei-, andere dreistöckig. 4000 Menschen leben hier auf einer Fläche, die so groß ist wie das Berliner Olympiastadion. Die Gassen führen im Zickzack-Kurs den Hang hoch, auf dem sich Peinha seit vierzig Jahren ausbreitet.

Die Briefträger hinterlassen die Post für die Bewohner oben in einer Bar, die nur wenige Meter im Armenviertel liegt. Andernfalls würden sie nur durch dieses Labyrinth irren, um die richtigen Haustüren zu finden. Und gefährlich wäre es noch dazu. Wer hier ohne Begleitung eines Ortskundigen auftaucht, gilt als Ziel von Kleinkriminellen und Gangs. Adriana de Santa ist hier aufgewachsen. Wer sie begleitet, muss keine Angst haben, solange es hell ist.

"Seid ihr alle gesund? Bleibt bitte, bitte zuhause", appelliert de Santa an die Bewohner. Seit dem 24. März gelten in der Metropole strenge Ausgangsbestimmungen, weil auch hier das Coronavirus grassiert. Ganz Brasilien zählte am Donnerstag gut 30.000 Infizierte und 2000 Todesfälle. São Paulo ist das Epizentrum des Ausbruchs im Land.

Kakerlaken kann man wenigstens sehen

Bei einem gemeinsamen Besuch der Favela im Oktober 2019 erzählte Adriana de Santa von den Ratten und Kakerlaken, die zum Leben hier dazu gehören. "Ich schreie dann immer meinen Mann an, dass er die Viecher umbringen soll, wenn ich sie sehe." Dann lachte sie. An Ratten und Ungeziefer hatte sie sich wohl oder übel längst gewöhnt. Jetzt aber ist der potenzielle Eindringling ein winziges unsichtbares Virus, und die Angst in der Nachbarschaft ist plötzlich viel größer als vor Nagetieren und Ungeziefer. "Die Menschen sind sehr besorgt, weil sie sich hier nicht isolieren können. In manchen Wohnungen leben fünf, sechs Menschen in zwei oder drei Zimmern zusammen", sagt sie. Und die Bildungseinrichtungen für Kinder sind zurzeit geschlossen.

Die Favelas sind die Armenviertel der brasilianischen Großstädte, illegal errichtet, aber weitgehend von der Regierung geduldet, weil die nicht weiß, wohin mit all den Menschen, die durch die massive Industrialisierung Brasiliens in den vergangenen 40 Jahren vom Land in die Städte gezogen sind. Von den 200 Millionen Einwohnern Brasiliens leben etwa 13 Millionen Menschen in solchen minderwertigen Behausungen, gibt die größte nationale Favela-NGO Cufa an. In São Paulo sollen es mindestens zwei Millionen Menschen sein.

Peinha zählt zu den Vierteln, die schon deutlich schlechtere Zeiten erlebt haben. Vor 40 Jahren bestand hier alles aus Holz und Wellblech. Abwässer flossen durch Bächlein in den Gassen und unten in den Fluß hinein. Breitbeinig mussten die Leute darüber laufen. Andernorts ist das immer noch blanke Realität. Die schrittweise Versorgung mit Strom und fließendem Wasser hat das Elend in vielen Favelas verringert, aber längst nicht in allen.

Die Bildungschancen sind immer noch überall gleich schlecht. Viele Menschen arbeiten als Hilfskräfte und Tagelöhner oder gehen Putzen, andere arbeiten gar nicht. "Viele leben nur von der Hand in den Mund. Der Lockdown zwingt sie jetzt dazu, zuhause zu bleiben. Die können nichts verdienen, um sich Lebensmittel zu kaufen", sagt Martina Schmickl. Die 35-Jährige arbeitet für die Associação Comunitária Monte Azul, eine NGO, die 1979 von der deutschen Entwicklungshelferin Ute Craemer gegründet wurde und seitdem sehr aktiv mitgeholfen hat, das Leben in Peinha und der benachbarten Favela Monte Azul zu verbessern. Jetzt bittet die NGO dringend um Spenden, um Hunderte Familien mit dem Nötigsten versorgen zu können.

Drogengangs und Sozialarbeiter

Aus Rio de Janeiro kamen neulich Berichte, dass Drogenclans unter Androhung von Gewalt dafür sorgen, dass die Ausgangssperre in den Favelas eingehalten wird. In Peinha und Monte Azul wird auch mit Drogen gehandelt – auf offener Straße, ohne dass sich jemand darum schert, dass Ausländer von dem Verkauf kleiner Pillen nur fünf Meter entfernt stehen. Gangs haben aber hier nicht das Sagen; auch, weil der Einfluss der Sozialarbeiter seit vielen Jahren sehr groß ist. "Es gibt eine schweigende Abmachung, dass die Dealer nicht in der Nähe von Einrichtungen wie Kindergärten oder Gesundheitszentren herumlungern", sagt Schmickl. Auch weil die NGO die Kinder mancher Dealer mit großzieht.

Die Schwäbin fühlt sich weitgehend sicher in den Favelas, die ihre NGO betreut. Die meisten Bewohner kennen Schmickls Gesicht, wissen, dass sie hier ist, um zu helfen. Seit 2018 arbeitet sie für die Associação. Allerdings verlässt auch sie die Viertel, bevor die Dunkelheit einbricht. "Dann tauscht sich hier schnell das Publikum aus", sagt sie und meint, dass Familien mit Kindern und die Alten dann in ihren Wohnungen bleiben. Die jungen Wilden übernehmen die Straßen und beginnen ihren "Tag".

Es gibt auch Forderungen nach einer kompletten Ausgangssperre. Die Wut auf Staatspräsident Jair Bolsonaro wächst in São Paulo, weil er die Gefahr kleinredet. Als Bolsonaro vor wenigen Tagen seinen beliebten Gesundheitsminister Luiz Mandetta entließ, der zwei Monate lang versucht hatte, den störrischen Chef zu konsequentem Handeln zu bewegen, protestierten Millionen Menschen im Land, indem sie an ihren geöffneten Fenstern lärmend auf Töpfe und Pfannen einschlugen. Panelaço, sagen die Brasilianer dazu.

Aufklärung dringend nötig

Die mangelhafte Bildung vieler Favela-Bewohner stellt eine zusätzliche Herausforderung im Kampf gegen die Seuche dar. Falsche Informationen zur Behandlung oder Vorbeugung machen rasend schnell die Runde und können dann kaum wieder eingefangen werden. Bolsonaros 'Das-ist-nur-ein-Grippchen'-Politik überlässt die Aufklärung anderen.

Manche Medien behaupteten jedoch, man könne seine Hände mit handelsüblichem Schnaps desinfizieren, obwohl der nur einen Alkoholgehalt von 40 oder 50 Prozent hat. Adriana de Santa erzählt, dass sich in Peinha auch herumgesprochen habe, dass das Virus vier Tage lang im Rachen eines Menschen sei. Man müsse nur genug Wasser trinken, um andere zu schützen.

Ambulante Notdienste laufen zudem auf Sparflamme, weil viele betagte Ärzte aus der Risikogruppe freigestellt wurden. Vertreter der zweitgrößten Favela São Paulos, Paraisópolis, beklagten derweil in einem Interview mit der landesweiten Tageszeitung "O Globo", dass es keinen Notfallplan für die Favelas gebe. Die Krankenhäuser der Nachbarschaft, in der rund 60.000 Menschen leben, seien jetzt schon überfordert. Die Bewohner, so der zweifelhafte Lösungsversuch, sollten jetzt bitte nicht wegen jedes Schnupfens zum Arzt laufen.

Quelle: ntv.de


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