Was eine zweite Welle so gefährlich macht

  25 April 2020    Gelesen: 1238
  Was eine zweite Welle so gefährlich macht

Virologen warnen eindrücklich, dass die Corona-Epidemie längst nicht vorbei ist. Ein Wiederaufflammen kann sogar verheerender sein als die erste Welle der Infektionen.

Die Warnung der Kanzlerin war eindrücklich. "Wir dürfen uns keine Sekunde in Sicherheit wiegen", erklärte Angela Merkel am Montag. In Deutschland traten zu diesem Zeitpunkt nach Wochen der Einschränkungen in der Coronakrise die ersten Lockerungen in Kraft. "Es wäre jammerschade, wenn wir sehenden Auges in einen Rückfall gehen", so Merkel.

Das Land probt in Teilen derzeit die vorsichtige Rückkehr in die Normalität. Dabei ist klar: Sollten die Infektionszahlen wieder stark steigen, wäre ein neuer Shutdown unvermeidlich. "Wenn wir alle weiter jetzt so tun, als ob das Problem überwunden wäre, werden wir wieder einen Ausbruch haben. Das ist ziemlich sicher", bestätigte Lars Schaade, der Vizepräsident des Robert Koch-Instituts, am Dienstag. Sollten die Fallzahlen in Zukunft massiv zulegen, "kann das Gesundheitssystem immer noch sehr schnell überlastet werden" (mehr zu den Bettenkapazitäten  lesen Sie hier ).

Ob, wann und wie stark eine zweite Corona-Welle auftreten wird, ist derzeit noch nicht klar. Viele Aspekte spielen hier eine Rolle, etwa die Frage, ob es durch höhere Temperaturen in den Sommermonaten eine Abschwächung des Infektionsgeschehens geben wird. Tückisch ist, dass man die Welle womöglich erst dann sieht, wenn sie bereits da ist. Das hat damit zu tun, dass neue Fälle durch Inkubationszeit und Meldeverzögerung erst nach über einer Woche oder noch längerer Zeit in den Statistiken auftauchen.
Der Virologe Christian Drosten von der Charité in Berlin hat unlängst beschrieben, warum eine zweite Welle womöglich deutlich problematischer sein könnte als die erste. Zum Start der Pandemie in Deutschland waren die Fälle sehr ungleich verteilt. Stark betroffenen Gebieten, in denen sich der Erreger etwa durch Karnevalssitzungen, Starkbierfeste oder zurückkehrende Skiurlauber überdurchschnittlich verbreitet hatte, standen bisher viele Landesteile gegenüber, in denen das Problem längst nicht so massiv auftrat.

Bei einem Wiederaufflammen der Infektionen, so Drosten, dürfte sich das aber ändern - weil sich der Erreger derzeit unter der Decke der aktuellen Einschränkungen weiterverbreitet, nur eben langsamer. "Auf einmal hat man eine Wucht einer Infektionswelle innerhalb von einem Monat, die man nicht erwartet hatte", so der Virologe. Selbst wenn es bis dahin gelungen sei, den Reproduktionsfaktor um die 1 zu halten (das bedeutet, dass ein Covid-19-Erkrankter jeweils einen Gesunden ansteckt), könnten die Folgen drastisch sein.

Kanzlerin Merkel hatte kürzlich vorgerechnet, dass bei einem Anstieg des Reproduktionsfaktors auf 1,3 die Intensivstationen bereits im Juni überfüllt seien. Läge der Faktor auch nur bei 1,1 sei das trotzdem noch im Herbst der Fall. Was ihn "schon etwas sorgenvoll" stimme, sagte auch der Virologe Drosten, sei der Umstand, dass sich auch aktuell die Intensivbetten an der Charité nach und nach füllten - obwohl es in Berlin nie "eine Situation von einer sehr hohen Übertragung" gegeben habe. Eine Rolle könnte dabei spielen, dass Patienten mit schweren Verläufen von Covid-19 teils wochenlang auf Intensivpflege angewiesen sind, die Betten also auf lange Zeit belegt sind.

"Wir stehen immer noch am Anfang der Pandemie, das vergessen viele", sagt auch die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig dem SPIEGEL. "Die Regierung hat mit den Lockerungen nun ein falsches Signal gesendet und ich befürchte, dass viele das Virus jetzt nicht mehr so ernst nehmen und wieder mehr Kontakte treffen." Wenn das passiere, stehe Deutschland bald wieder da, wo es am Anfang gestanden habe, warnt Brinkmann.

Auch in den USA wächst die Sorge vor der zweiten Welle. Robert Redfield, Chef der Seuchenschutzbehörde CDC, fürchtet, dass eine verstärkte Wiederkehr des Erregers mit der kommenden Grippesaison zusammenfallen könnte. "Es besteht die Möglichkeit, dass der Angriff des Virus auf unsere Nation im nächsten Winter sogar noch schwieriger sein wird als der, den wir gerade erlebt haben", erklärte Redfield in einem Gespräch mit der "Washington Post". Die Behörden der Regierung in Washington und der Bundesstaaten sollten die Zeit bis dahin nutzen, um sich vorzubereiten. Das betreffe nicht nur den Ausbau von Testkapazitäten und die Fähigkeit, die Kontakte von Infizierten nachzuverfolgen – sondern auch die Notwendigkeit, den Menschen zu erklären, dass sie sich weiter an Kontakt- und Abstandsregeln halten müssten. 

Ebenfalls in der "Washigton Post" fand sich vor einiger Zeit ein historischer Blick auf die Gefahren einer zweiten Welle. Konkret geht es um die Stadt Denver zur Zeit der Spanischen Grippe vor 102 Jahren. Dort hatte man nach dem Auftreten erster Fälle Ende September 1918 eine gute Woche später strenge Seuchenschutzregeln eingeführt. Erfreuliche Ergebnisse zeigten sich nach zehn Tagen, woraufhin die Einschränkungen am 11. November zurückgenommen wurden. Die Zahl der Erkrankungen stieg daraufhin wieder an.

Tatsächlich gab es in der zweiten Welle in Denver aber nicht nur rund 50 Prozent mehr Infektionen pro Kopf der Gesamtbevölkerung, auch die Dauer des Infektionsgeschehens in der Stadt war deutlich länger. Auch in Städten wie Kansas City, Milwaukee und St. Louis sei die Wiederkehr der Krankheit tödlicher gewesen als ihr erstes Auftreten.

Im Zusammenhang mit Covid-19 sollte das nachdenklich stimmen. Wie eine Rückkehr der Krankheit verlaufen kann, ist derzeit im zwischenzeitlichen Corona-Vorzeigeland Singapur zu sehen. Aus nur einer Handvoll Neuinfektionen pro Tag Anfang März sind inzwischen teils deutlich mehr als 1000 geworden. Vor allem ausländische Arbeiter in ihren engen Massenunterkünften sind betroffen. Das Problem: Waren am Anfang des Ausbruchs in Singapur die Infektionswege noch nachvollziehbar, ist das nun kaum noch der Fall. Der Ausbruch droht, außer Kontrolle zu geraten.

In Neuseeland dagegen möchte man eine zweite Welle der Erkrankungen gar nicht erleben. Das vergleichsweise dünn besiedelte Land hat sich vorgenommen, die Verbreitung des Erregers Sars-CoV-2 nicht nur einzudämmen, sondern komplett zu stoppen. Das Virus habe "keine Superkräfte" sagte die Impfstoffforscherin Helen Petousis-Harris von der University of Auckland der Nachrichtenagentur AP. "Sobald die Übertragung gestoppt wird, ist es weg."

An zumindest einem Ort der Welt ist das auch bereits gelungen. Die Arktisinsel Grönland berichtet davon, dass es dort aktuell null Corona-Fälle gibt.

spiegel


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