"Das Gehirn wird vom Auto manipuliert"

  06 September 2020    Gelesen: 805
  "Das Gehirn wird vom Auto manipuliert"

Abgas-Skandal, Klimawandel, Staus, Verkehrstote: Das Auto hat seine Schattenseiten. Dennoch scheint die Liebe zu ihm ungebrochen. Im Gespräch mit ntv.de erzählt Verkehrsforscher Knoflacher, wie das Auto die Sicht vernebelt - und Menschen plötzlich zu Störfaktoren werden.

ntv.de: Herr Knoflacher, bei uns in Deutschland herrscht das Motto "freie Fahrt für freie Bürger". Sie hingegen sind der Überzeugung, dass das Auto die Bürger nicht frei macht, sondern krank.

Hermann Knoflacher: Nicht nur das. Es macht sie unfrei. Denn wenn Sie in eine Abhängigkeit geraten, dann sind Sie unfrei. Menschen, die geistig, physisch oder auch aufgrund ihrer räumlichen und zeitlichen Struktur abhängig vom Auto sind - das ist ja keine Freiheit, sondern Unfreiheit.

Aber durch das Auto ist doch die Mobilität der Menschen gestiegen - ist das nicht Freiheit?

Die Mobilität ist nicht gestiegen. Die Zahl der Wege, die die Deutschen machen, ist pro Tag im Schnitt nach wie vor so hoch, wie sie auch schon seit dem Beginn der Motorisierung war. Deutsche machen rund drei Wege pro Tag im Schnitt. Das heißt, Mobilität, wie sie definiert wird, ist ja schon ein verfälschter Begriff, wenn man nur die Zahl der Wege mit dem Auto zählt, aber nicht die gleichzeitig verringerte Zahl der Wege zu Fuß, mit dem öffentlichen Verkehr oder mit dem Fahrrad.

Speziell Deutschland hat sehr vom Auto profitiert. Es hat uns nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Wirtschaftsaufschwung verholfen, wir exportieren viele Autos, fast eine Million Menschen sind bei Automobilherstellern oder Zulieferern beschäftigt - ist das Auto also nicht auch ein Schlüssel zum Wohlstand?

Alles, was Sie aufgezählt haben, sind Indikatoren, die von den Interessengemeinschaften, den Autoproduzenten, der vom Auto abhängigen Industrie, der Erdölindustrie und natürlich den Banken gerne gesehen werden. Autos leisten zwar einen Beitrag zum Bruttonationalprodukt. Aber das Bruttonationalprodukt unterscheidet ja nicht, ob eine Aktivität nützlich oder sinnvoll für die Gesellschaft ist. Es erhebt nur, dass irgendeine Aktivität stattfindet, die Geld kostet. Damit können Sie jeden Unsinn auch als positiv im Bruttonationalprodukt bewerten. Wohlstand wird verbunden mit dem Auto, aber Wohlbefinden offensichtlich nicht.

Inwiefern leidet denn das Wohlbefinden?

Wenn ich daran denke, wie viele Menschen in Deutschland frühzeitig durch Abgase zu Tode kommen. Wie die Menschen in ihrer Nachtruhe gestört werden. Dazu kommen die Verkehrstoten. Auch heute noch opfert Deutschland pro Jahr mehr als 3000 Menschen dem Autoverkehr. Hierbei wird systematisch eine zutiefst menschliche Werteskala zugedeckt. Nämlich, dass man menschliches Leben respektieren und achten sollte. Dazu kommen die vielen seelisch und physisch Verletzten, nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Bei den Waffenexporten wird ja langsam bewusst, dass das ethisch nicht verantwortbar ist. Aber bei den Autos ist es das Gleiche. Ich vermute, deutsche Autos bringen mehr Menschen um als deutsche Waffen.

Wenn die Nachteile des Autos so groß sind - warum sind die Menschen nicht in der Lage, das zu erkennen?

Das habe ich in den 1970er Jahren erforschen können. Also, ein Fußgänger braucht eine bestimmte Menge an Energie, und wenn er schneller gehen will, dann muss er das direkt mit mehr Energie bezahlen. Beim Auto ist das nicht so, es stellt viel Energie zur Verfügung, die nicht kompensiert werden muss. Der Mensch ist darauf evolutionär überhaupt nicht vorbereitet. Es überwältigt ihn. Und deshalb setzt sich das Auto ganz tief im Stammhirn des Menschen fest. Und er beginnt, sich mit dem Auto zu identifizieren. Wir finden plötzlich alles in Ordnung, was dem Auto nützt. Wir sehen die Welt nicht mehr so, wie sie ein Mensch sehen müsste, wenn er in einer menschlichen Welt leben sollte. Ein anderer Mensch, also ein Fußgänger zum Beispiel, ist daher ein Störfaktor für Autofahrer. Das heißt, das Gehirn wird ganz massiv vom Auto manipuliert.

Wie macht sich das konkret bemerkbar?

Ich erlebe das in meinen Planungen jedes Mal. Wenn ich versuche, wieder menschliche Verhältnisse in den Gemeinden herzustellen, treffe ich zwangsläufig auf die Gegenargumente der Auto-Abhängigen. Die Menschen finden dann alle möglichen Argumenten pro Auto: Sie müssen Kinder herumfahren, einkaufen und so weiter. Das sind alles Vorwände, gesteuert vom Auto. Das heißt, sie verteidigen nicht mehr die Werte des Lebens, wie etwa die Werte der Kinder, die Menschen sprechen im Namen des Autos. Dass sie aber in den vom Auto veränderten Strukturen gefangen sind, merken sie aber nicht.

Aber wie kann man die Menschen von der Vereinnahmung durch das Auto zu befreien?

Befreien können Sie die Menschen nur, indem wir, die Planer gemeinsam mit den Politikern und den Bürgern die Strukturen ändern. Also Strukturen organisieren, in denen man sich wieder als Mensch und nicht mehr nur als Autofahrer wohlfühlt. Das grundsätzliche Konzept ist dabei relativ einfach. Die Parkplätze müssen aus der Nähe unserer täglichen Aktivitäten weg und die Geschwindigkeit muss heruntergesetzt werden.

Das haben Sie ja in Wien gemacht - flächendeckende Parkraumbewirtschaftung, Bäume und Gastgärten, Fahrradabstellplätze statt Parkplätze, rote Wellen, Einbahnstraßen, Fußgängerzonen und Spurverengungen für Innenstädte.

Das habe ich nicht nur in Wien gemacht, sondern überall. Der Erfolg von Wien ist im Wesentlichen die allgemeine Parkgebühr an der Oberfläche, um die Stadt von Autos freizumachen und auch die Garagenplätze zu reduzieren. Das Privatauto hat ja nichts in der Stadt verloren. Man muss das Ziel haben, die Stadt von den Autos zu befreien. Dann gibt man den Menschen ihre Freiheit zurück.

In Deutschland ist der Automobilklub ADAC mittlerweile von seinem strikten Nein zu einem Tempolimit auf Autobahnen abgerückt. Die Straßenverkehrsordnung wurde so geändert, dass Autofahrer mehr Rücksicht auf Radfahrer und Fußgänger nehmen müssen. Haben Sie Hoffnung, dass sich in Deutschland die Sichtweise aufs Auto ändert?

Hoffnung habe ich immer. Aber mich wundert, dass ein Land, das hohe Kultur für sich beansprucht, heute im Verkehrswesen auf einem Niveau diskutiert, das eher in die frühen 1960er Jahre gehört. Das ist einfach unfassbar.

Mit Herrmann Knoflacher sprach Kai Stoppel

Quelle: ntv.de


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