Was hat Gas mit Gift zu tun? Zurzeit sehr viel: Seit der russische Kreml-Kritiker Alexej Nawalny einem Anschlag mit Nowitschok zum Opfer fiel, wird hierzulande plötzlich über etwas diskutiert, das selbst aggressivste Drohungen seitens der USA bisher nicht vermochten: Eine Einstellung der Gaspipeline Nord Stream 2. Sollte Deutschland sich aus dem nahezu abgeschlossenen Projekt zurückziehen? Um diese Frage ging es am Sonntagabend bei Anne Will. Die Runde mit Gästen wie Norbert Röttgen, Jürgen Trittin und dem Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, versprach viel und hielt dies auch weitgehend.
CDU-Politiker Röttgen hatte sich schon unter der Woche klar positioniert und ein Stopp von Nord Stream 2 gefordert. "Was wir erleben, ist die Frage, ob die Europäer gegen dieses menschenverachtende System etwas entgegensetzen", sagte er in der Sendung. Nord Stream 2 zu stoppen, sei die Sprache, die Russlands Präsident Wladimir Putin verstehe. Es sei die "Sprache des Geldes, des Gases und der Macht", so der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages. Zumal es nicht der erste Fall dieser Art sei.
Auch Außenminister Heiko Maas hatte am Wochenende ein Ende von Nord Stream 2 immerhin ins Spiel gebracht. Kanzlerin Angela Merkel hingegen sagt lediglich, man müsse beide Fragen, also Gas und Gift, getrennt voneinander bewerten. Wobei es für die Bundesregierung womöglich sogar verlockend erscheinen könnte, nun im Zuge der Nawalny-Affäre die Pipeline zu beerdigen und damit die Chance zu nutzen, einen Dauerzankapfel mit den europäischen Nachbarn und vor allem den USA in der Ostsee zu versenken - ohne das Gesicht zu verlieren, wie es der Fall wäre, gäbe man den Drohungen aus Washington nach.
Dagdelen wirkt bestenfalls naiv
Doch bei solchen Überlegungen bekam der langjährige Spitzendiplomat Ischinger erkennbar Bauchschmerzen, da dies zu einem "Triumphgeheul" der Amerikaner führen könnte und so einen Präzedenzfall schaffen könnte, "den wir uns nicht wünschen sollten". Er finde es genau richtig, dass Merkel eine europäische Antwort geben wolle. Wenn man aber mit den EU-Staaten über eine gemeinsame Antwort verhandele, müsse auch Nord Stream 2 mit auf den Tisch, räumte er aber ein. Sonst mache man sich unglaubwürdig.
Auf den Beitrag von Linken-Außenpolitikerin Sevim Dagdelen hätte man Wetten abschließen können - sie forderte ganz in der Parteitradition, jetzt bitte nicht zu hart mit Russland ins Gericht zu gehen. Man solle doch erstmal die Untersuchung des Vorfalls abwarten, sagte sie, und wirkte damit bestenfalls naiv. Zumindest wenn auch nur die Hälfte dessen stimmt, was Putin an Ruchlosigkeit nachgesagt wird. Doch dabei beließ sie es nicht - sie deutete an, dass gar westliche Geheimdienste für die Vergiftung infrage kämen, weil diese Berichten zufolge ebenfalls über die Nowitschok-Formel verfügten. Damit reizte sie den Diplomaten Ischinger zum Äußersten: "Ich finde es empörend, wie sie hier Verschwörungstheorien befördern", sagte er mit leicht erhobener Stimme.
Auch Grünen-Politiker Trittin musste an sich halten. "Man soll sich nicht dümmer machen, als man ist", sagte er zu Dagdelen. Die Vergiftung sei in Russland passiert, daher müsse Russland auch für Aufklärung sorgen. Auch und vor allem, weil es Nowitschok laut Chemiewaffenverbot in Russland gar nicht mehr geben dürfte. Röttgen hielt sich wie Trittin damit zurück, Putin direkt zu beschuldigen. Doch sei es ganz klar, dass jeder wissen solle, dass der russische Staat dahinter stecke. Der Grund dafür seien die Proteste in Belarus. "Das Freiheitsvirus kann sofort auf den Roten Platz herüberfliegen", sagte er. Das müsse gleich zu Anfang brutal zerstört werden, damit niemand auf andere Gedanken komme.
Stopp von Nord Stream 2 würde Russland schmerzen
Auch die Russland-Expertin Sarah Pagung von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik machte deutlich, dass Nowitschok so komplex und so gefährlich sei, dass gut ausgestattete Labore und gut ausgebildete Experten dafür notwendig seien. Das spreche für eine Verantwortung des russischen Staates. Pagung sagte auch, dass ein Stopp der Pipeline Nord Stream 2 das außenpolitische Instrument der Bundesregierung sei, das die größte Wirkung in Moskau entfalten würde. Fünf Milliarden Euro, die Gasprom investiert habe, wären dann verloren. Die gleiche Summe haben aber auch rund 100 europäische Firmen aus zwölf Ländern in das Projekt gesteckt, die sich dann womöglich bei der Bundesregierung das Geld per Klage zurückholen könnten.
Trittin stellte wie bereits am Freitag im Interview mit ntv.de den Sinn der Nord Stream 2 auch aus energiepolitischen Gründen infrage. "Wir haben immer gesagt, diese Pipeline ist überflüssig, sie ist eine Wette gegen die europäischen Klimaschutzziele", sagte er. "Wenn wir wirklich unabhängig werden wollen, müssen wir massiv unseren Verbrauch von fossilen Rohstoffen einsparen." Er forderte zudem, härter gegen russisches Vermögen in der EU vorzugehen. Wie bei jedem Clan-Chef in Neukölln sollte Vermögen eingefroren werden, bis bewiesen werde, dass es legal erworben wurde.
Aber hat Nord Stream 2 denn nun noch eine Zukunft? Am Ende der spannenden Diskussion zeigte sich Ischinger skeptisch, dass bei einer etwaigen Fertigstellung, die Bundeskanzlerin diese gemeinsam mit russischen Vertretern feiern würde. "Die Inbetriebnahme kann ich mir nicht vorstellen, als einen Akt, den wir vertreten können. Es sei denn die russische Regierung klärt auf, darum geht es." Und wenn sie es nicht tue, dann könne man eben leider nicht anders, als darauf zu reagieren.
Quelle: ntv.de
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