Frankreich und Afrika: Abnabeln in Zeitlupe

  22 November 2020    Gelesen: 1974
    Frankreich und Afrika:   Abnabeln in Zeitlupe

Seit 60 Jahren sind Frankreichs ehemalige Kolonien unabhängig - doch das nur auf dem Papier. Denn Frankreich zieht im Hintergrund weiter die Strippen. Kann aus Françafrique jemals Frankreich und Afrika werden?

Freiheit, Erleichterung, Hoffnung - dies dürften die Gefühle von Millionen von Afrikanern gewesen sein, als vor 60 Jahren das französische Kolonialregime auf dem Kontinent endete. Neun französische Kolonien erlangten allein im August 1960 die Unabhängigkeit, 14 waren es im gesamten Jahr: Benin, Burkina Faso, Côte d'Ivoire, Mali, Niger, Senegal, Togo, Kamerun, Tschad, Kongo-Brazzaville, Madagaskar, Mauretanien, Gabun und die Zentralafrikanische Republik. 

1830 besetzte Frankreich als erstes Land Algerien, es folgten die Sahelzone und große Teile West- und Zentralafrikas. Es sollte viele Jahre dauern, bis die Ketten des Kolonialismus gesprengt würden, Millionen von Afrikanern litten und starben unter Frankreichs Hand. Erst 1946 gründete Frankreich die Union française, was es den afrikanischen Gebieten immerhin erlaubte, politische Vertreter in die Assemblée nationale zu entsenden - doch ohne von Souveränität zu sprechen. In vielen Gebieten wuchs der Widerstand gegen Frankreich. Guinea wurde im Oktober 1958 unabhängig, als erstes der afrikanischen Gebiete Frankreichs.

Keine Freiheit, keine Unabhängigkeit
"60 Jahre später haben die frankophonen Länder Afrikas noch immer keine wahre Unabhängigkeit und Freiheit von Frankreich", sagt Nathalie Yamb, Beraterin der Partei Freiheit und Demokratie für die Republik der Elfenbeinküste (LIDER). Das fange bereits bei den Schulbüchern an, deren Inhalte oft immer noch in Frankreich bestimmt würden.

Zum einen bestehe in vielen dieser Länder noch immer ein von Frankreich eingeführtes Staatssystem. "Kurz bevor 1960 die Unabhängigkeit real wurde, beschloss Frankreich, in einigen Ländern wie der Elfenbeinküste, das parlamentarische System abzuschaffen und ein Präsidialregime vorzubereiten, in dem alle Territorien und Befugnisse in der Hand des Staatsoberhauptes liegen", so Yamb im DW-Interview. Die Idee dahinter: "Um die Länder weiterhin in der Hand zu behalten, muss nur eine Person, die alle Machtbefugnisse hat, manipuliert werden." 

Françafrique, wie der französische Einfluss in den ehemaligen Kolonien genannt wird, bleibt bestehen - und gerade bei der Jugend wächst der Groll auf die ehemalige Kolonialmacht. Seit den 1980er-Jahren versprachen zahlreiche Präsidentschaftskandidaten die Abkehr von Françafrique. 

Doch das Versprechen eines Neuanfangs zwischen Frankreich und den frankophonen Staaten Afrikas sei mittlerweile nicht mehr als ein Ritual, so Ian Taylor, Professor für Afrikanische Politik an der St. Andrews-Universität in Schottland. "Sie sprechen von Veränderung, doch schnell nach dem Amtsantritt merken die französischen Präsidenten, dass das wirtschaftliche und politische Interesse an Afrika zu stark ist und es auf beiden Seiten kein wirkliches Interesse an Veränderung gibt."

Ressourcen, Kontrolle und Militär
Doch warum scheinen sich weder Afrikas Eliten noch Frankreich von Françafrique lösen zu wollen? Laut Paul Melly, Berater beim Afrika-Programm der britischen Denkfabrik Chatham-House, scheitert es an den privaten Interessen der Eliten. Im Jahr 1962 beauftragte Frankreichs Präsident Charles de Gaulle seinen Berater Jacques Foccart mit dem Aufbau der Françafrique. "Foccart baute ein Netzwerk persönlicher Kontakte zwischen der französischen Führung und den Eliten der ehemaligen französischen Kolonien auf", so Paul Melly, im DW-Interview. "Es waren oft sehr persönliche Verbindungen, aber sie hatten auch einen intransparenten, sehr paternalistischen, sehr kontrollierenden Charakter."

Foccart schuf Verträge mit den Herrschern der Länder, die noch heute gültig sind: Im Austausch für militärischen Schutz vor Putschversuchen und gegen Provisionen in Millionenhöhe gewährleisteten afrikanische Länder den Zugang französischer Unternehmen zu strategischen Ressourcen wie Diamanten, Erze, Uran sowie Gas- und Ölvorkommen. Heute hat Frankreich eine solide Präsenz auf dem Kontinent - mit 1100 Konzernen, gut 2100 Tochtergesellschaften und dem drittgrößten Investitionsbestand hinter Großbritannien und den Vereinigten Staaten.

Auch garantiert der Kolonialpakt Frankreich weiterhin das Vorkaufsrecht auf alle natürlichen Ressourcen und einen privilegierten Zugriff auf staatliche Aufträge.

Aktuell leitet Frankreich die Militäroperation Barkhane gegen islamistische Gruppierungen in der Sahelregion. 5100 Soldaten aus verschiedenen Ländern sind daran beteiligt (Stand: Februar 2020). Die "New York Times" berichtete, dass im Jahr 2007 fast die Hälfte der 12.000 Soldaten umfassenden französischen Friedenstruppen nach Afrika entsandt wurde. Diese Truppen verfügten sowohl über militärische als auch beratende Fähigkeiten - und unterstützen und stabilisieren das Regime der jeweiligen Länder.

Françafrique wird zu Afrique-France?
All dies sei mehr als frustrierend, so Yamb. "Die Präsidenten dieser afrikanischen Länder wollen weiterhin lieber Frankreich dienen, als die Interessen ihres Volkes in den Vordergrund zu stellen. Es ist die Jugend Afrikas, die wahre Unabhängigkeit fordert und mit dieser wahnsinnigen, ungesunden Beziehung mit Frankreich brechen will."

Caroline Roussy, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für internationale und strategische Beziehungen in Frankreich (IRIS), hat Einwände. "Die Unabhängigkeit ist nicht vollständig, aber wir können sie nicht mit den 60er-Jahren vergleichen. Frankreich und Präsident Emmanuel Macron haben versucht, das Muster und das Paradigma zu ändern, und gesagt, wir beginnen eine neue Geschichte zwischen Frankreich und Afrika, wir beenden Françafrique." 

Ein Beweis dafür sollte das "Afrique-France"-Gipfeltreffen der französischen und der aller afrikanischen Regierungen sein, das aufgrund von COVID-19 verschoben wurde. Zusammen sollen hier Projekte und Lösungen gesucht werden, um in Afrika nachhaltige Städte und Regionen aufzubauen und die Herausforderungen der massiven Urbanisierung zu bewältigen, die in den nächsten Jahrzehnten in Afrika erwartet wird.

Macrons Afrika-Akzente
Doch die Initiative hält Nathalie Yamb für ein reines Wortspiel. " Françafrique, Afrique-France - man kann mit Worten spielen, aber das ändert das System nicht." Ihrer Meinung nach habe sich die Beziehung zwischen Frankreich und den französischsprachigen afrikanischen Ländern unter Macron weiter verschlechtert. "Ich halte Emmanuel Macron sogar für einen der schlimmsten Präsidenten. Er verhält sich wie de Gaulle und verbirgt seinen Willen, dieses Verhältnis zwischen Afrika und Frankreich gewaltsam aufrechtzuerhalten, nicht."

Doch Caroline Roussy betont: "Als Macron ins Amt kam, hat er aus meiner Sicht einige Fehler gemacht, als er etwa die Präsidenten des G5-Sahel einberief, anstatt sie zu besuchen. Aber er hat auch eine Menge Dinge getan." So setzte er die ruandische Außenministerin Louise Mushikiwabo an die Spitze der Internationalen Organisation der Frankophonie und versprach die Rückgabe der meisten afrikanischen Artefakte, die in französischen Museen lagern.

Afrika zuerst?
"Wenn Frankreich Afrika verliert, ist Frankreich nichts mehr", so Yamb. "Macron versucht, Afrika eine Beziehung aufzuzwingen, die die Afrikaner nicht mehr wollen."

Ein Beispiel dafür sei der Eco, die neue westafrikanische Einheitswährung, die den sogenannten Franc-CFA ablösen soll. "Der Eco ist ein sehr altes Ecowas-Projekt. Frankreich hat beschlossen, den Namen des Ecowas-Projekts zu kapern. Sie sagen, sie ändern das System, aber sie ändern nur den Namen", so Yamb. "Es muss eine Initiative einer afrikanischen Regierung sein. Sie kann nicht von Frankreich aus angekündigt, entworfen oder geplant werden."

Der Franc-CFA ist an den Euro gekoppelt - was eine eigenständige Geldpolitik unmöglich macht. Zudem zahlen diese afrikanischen Länder bis zu 65 Prozent ihrer Devisenreserven in die französische Staatskasse ein. "Es klingt unglaublich, aber die afrikanischen Regierungen wissen nicht, wie viel Geld in der Staatskasse jedem einzelnen Land gehört", so Taylor. Er wirft Frankreich vor, afrikanisches Geld als Entwicklungshilfe für die ursprünglichen Einzahler umzudeklarieren und damit seine Macht in der Region zu projizieren. Mit dem Eco enden immerhin die Überweisungen von Afrika nach Frankreich; sein Wert wird weiter an den Euro gekoppelt sein.

"Der CFA muss gehen, er ist ein lächerlicher neokolonialer Streich der Franzosen, der schon vor 60 Jahren hätte verschwinden sollen. Der erste Schritt zur wahren Unabhängigkeit der frankophonen Länder Afrikas ist es, den CFA zu begraben. Und damit auch Françafrique", fasst Politikwissenschaftler Taylor zusammen. Was die frankophonen Länder 60 Jahre nach ihrer Unabhängigkeit bräuchten, seien afrikanische Eliten, die bereit sind, Afrika an erste Stelle zu setzen.

dw


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