Situation der Intensivstationen aufgebauscht?

  18 Mai 2021    Gelesen: 951
Situation der Intensivstationen aufgebauscht?

Ein Thesenpapier, das daran zweifelt, die deutschen Intensivstationen hätten jemals an ihre Kapazitätsgrenzen kommen können, verursacht großen Wirbel. Der leitende Autor deutet in einem Interview gar manipulierte Zahlen an. Die Intensivmediziner wehren sich gegen die "irreführenden" Vorwürfe.

Waren die deutschen Intensivstationen zu keinem Zeitpunkt in Gefahr, überlastet zu werden? Das behaupten jedenfalls einige Autoren um den Mediziner Matthias Schrappe, der früher Vize-Chef des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen war, in einem Thesenpapier. In einem Interview mit der "Welt" sagt er unter anderem, die Krankenhäuser hätten von der Bundesregierung zwar offenbar eine halbe Milliarde Euro Fördergelder für die Schaffung neuer Intensivkapazitäten bekommen, die Betten "scheinen aber nicht existent zu sein".

Die Vereinigung der Intensivmediziner DIVI, der Bundesverband Marburger Bund und die Deutsche Ärztegesellschaft wehren sich in einer Stellungnahme entschieden gegen die Vorwürfe Schrappes und seiner Mit-Autoren. Sie nennen sie "irreführend" und einen "Schlag ins Gesicht der Ärztinnen und Ärzte und der Pflegekräfte".

Auch ein Präventionsparadox

Wenn ein Ernstfall wegen vorbeugender Maßnahmen nicht eintritt, müssen die Verantwortlichen oft Vorwürfen entgegentreten, die Intervention sei gar nicht nötig oder übertrieben gewesen. Der britische Epidemiologe Geoffrey Rose schuf dafür 1981 den Begriff "Präventionsparadox". In der Corona-Pandemie spielte die Problematik bisher vor allem bei den einschränkenden Eindämmungsmaßnahmen eine große Rolle. Virologe Christian Drosten sagte schon im April 2020 "The Guardian", das Präventionsparadox bereite ihm in Sorge vor einer zweiten Welle schlaflose Nächte.

Immer wieder wurde und wird von verschiedenen Seiten aber auch angezweifelt, dass das deutsche Gesundheitssystem in der Pandemie jemals in Gefahr gewesen wäre, überlastet zu werden. Und tatsächlich schrieb das Bundesgesundheitsministerium mit Verweis auf ein Gutachten des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung am 30. April, die stationäre Versorgung sei im ersten Pandemiejahr 2020 flächendeckend gewährleistet gewesen.

Das heißt aber nur, dass ein 30-prozentiger Rückgang der Krankenhausfälle durch die Pandemie im Frühjahr teilweise aufgeholt werden konnte. Trotzdem wurden "im Bereich der allgemeinen Krankenhäuser 13 Prozent und im Bereich der psychiatrischen Kliniken 11 Prozent weniger Fälle als im Vorjahr versorgt". Und schließlich beschreibt das Gutachten ja die Situation, die der Prävention, der Umverteilung und dem Aufbau zusätzlicher Kapazitäten zu verdanken ist. Oder etwa nicht? Das Thesenpapier der Autorengruppe um Matthias Schrappe bezweifelt dies nämlich.

Überversorgung statt knapper Kapazitäten?

Sie unterstellen Intensivmedizinern nicht nur, Angst zu schüren, um unter anderem eine Begründung für die "Bundesnotbremse" zu liefern. Sie schreiben auch, in Deutschland bestehe eher die Gefahr einer Überversorgung mit Intensivbetten. Alleine die für knapp 530 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellten rund 11.000 Intensivbetten seien mehr, als Frankreich insgesamt zur Verfügung stünden, schreiben sie. In keinem anderen Land würden im Vergleich zur Melderate so viele Infizierte intensiv behandelt, und in keinem Land würden so viele hospitalisierte Infizierte intensivmedizinisch betreut.

In der Tat war Deutschland OECD-Daten nach schon 2017 mit fast 34 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner Weltspitze. Dem Thesenpapier zufolge wurden Ende April in Deutschland 58 Prozent der hospitalisierten Covid-19-Patienten auf Intensivstationen behandelt, während es in der Schweiz nur 25 Prozent waren. Etwa 2 Prozent der stationären und 4 Prozent der intensiven Kapazitäten wurden laut Thesenpapier in Deutschland 2020 von Covid-19-Patienten belegt.

Die Autoren erwähnen nicht, dass ihrer Statistik nach mit einer Quote von 10,4 Patienten pro 100.000 Einwohner in Deutschland deutlich weniger Corona-Infizierte als in den meisten anderen aufgezählten Ländern ins Krankenhaus kommen. In der Schweiz sind es 12, in Italien 35, in Frankreich gar 43 Prozent.

Selbstverursachte Widersprüche

Man könnte genauso gut daraus schließen, dass in der Bundesrepublik seltener unnötige Krankenhausaufenthalte stattfinden - und wenn, werden die Betroffenen bestmöglich versorgt. Im Thesenpapier heißt es aber: "Offensichtlich stellt man in Deutschland die Indikation zur Intensivbehandlung von Covid-19-Patienten deutlich schneller als in anderen Ländern." Belege für ihren Verdacht liefern die Autoren nicht, die Datenlage sei "äußerst Widersprüchlich" und müsste "dringend untersucht werden", schreiben sie.

Der Widerspruch könnte darin liegen, dass sie RKI-Zahlen zur Hospitalisierung mit DIVI-Zahlen zur Intensiv-Belegung vergleichen. Was das bedeutet, erklärt TAZ-Redakteur Malte Kreuzfeld auf Twitter. Während im DIVI-Intensivregister die Zahlen der Patienten tagesaktuell exakt festgehalten würden, sagten die RKI-Zahlen nur aus, wie viele Menschen innerhalb einer Woche aufgrund von Corona ins Krankenhaus mussten, schreibt er. Es käme aber darauf an, zu wissen, wie viele dort gleichzeitig liegen. Ziehe man die vom RKI genannte durchschnittliche Liegedauer von zehn Tagen heran, steige die Zahl der Patienten, und die Quoten unterschieden sich gar nicht mehr großartig von denen der Vergleichsländer.

Zu den angeblich in Deutschland zu häufigen Aufnahmen von Covid-19-Patienten auf Intensivstationen heißt es in der Stellungnahme der Intensivmediziner, es sei "eben gerade die Stärke der deutschen Krankenhausstrukturen, die schwerkranken Patienten adäquat in den Intensivkapazitäten zu versorgen. Wer daraus eine 'Fehlversorgung' konstruiert, müsste gleichzeitig Daten vorlegen, dass die Behandlungsergebnisse in anderen Ländern gleich gut oder sogar besser waren."

Schwerer Betrugsverdacht

Trotz angeblicher Überversorgung resümieren Schrappe und Mit-Autoren, die Zahl der Intensivbetten nehme in Deutschland seit Sommer letzten Jahres ab, "obwohl angesichts der 'Triage'-Diskussion Anstrengungen zur Ausweitung der Intensivbettenkapazität zu erwarten gewesen wären." Und sie wittern Betrug. Dafür vergleichen die Autoren RKI- mit DIVI-Zahlen und kommen zu dem Ergebnis, dass es Anfang März eine seltsame Korrektur des Wertes für den 30. Juli 2020 von rund 3000 Betten nach unten gab.

Diese "rückwirkende 'Korrektur' könne nicht mit der veränderten Zählweise zusammenhängen", so das Thesenpapier. "Die Zahl der belegten Intensivbetten hat sich nicht verändert. Fragen zur Finanzierung, zur Bedeutung des Krankenhausplans und zu Freihalteprämien sowie deren Anreizwirkung bleiben offen." Es bleibe zu überprüfen, "ob und in welchem Umfang Freihaltepauschalen für diese Betten geflossen sind, und inwiefern hier die insgesamt 530 Millionen Euro Investitionspauschalen für die Neuschaffung von Intensivbetten abgerufen und geflossen sind."

Das ist ein sehr schwerwiegender Verdacht. Und Schrappe sagte der "Welt", es sei "anrüchig, weil diese Zahlen politische Konsequenzen hatten. Die Betten stehen in Krankenhausbedarfsplänen, und diese Betten werden finanziert". Es stelle sich die Frage, "ob da redlich gespielt wurde".

Wozu ist eine Notfallreserve da?
Die Frage lässt sich möglicherweise leicht beantworten. Denn am 4. März informierte die DIVI in ihrem Tagesreport unter anderem darüber, dass die Intensivbetten für Kinder nicht mehr berücksichtigt würden, da schwere Covid-19-Verläufe hauptsächlich bei Erwachsenen aufträten.

Betten auf der Frühchenstation (NICU) und für schwerstkranke Kleinkinder (PICU) spielten für die Versorgung von Covid-19-Patienten keine Rolle, schreibt die DIVI in der Stellungnahme. "Auf die Veränderung der Darstellung reiner Erwachsenenbetten wird in sämtlichen Statistiken aber auch explizit hingewiesen."

Schummelei oder Schlimmeres sehen Schrappe & Co. auch wegen der Notfallreserve, die die DIVI seit vergangenem August in ihren Reports und Zeitreihen ausweist. Zu Beginn lag die Reserve bei rund 12.000 Betten, seit Anfang des Jahres sind es rund 10.000. Es stelle sich die Frage, so die Autoren, "wofür – wenn nicht für den Fall einer Pandemie – diese Betten eigentlich vorgehalten werden".

Ein Blick in die FAQ des DIVI-Intensivregisters hätte die Frage schnell erübrigt. Die Notfallreserve stellen Betten dar, die zunächst nicht betreibbar sind. Dafür muss ein Krankenhaus erst Personal und weitere Kapazitäten aus anderen Bereichen abziehen. Das bedeutet letztendlich, dass planbare Aufnahmen sowie Operationen und Eingriffe verschoben werden müssen. Die Reserve ist also ein Puffer für den äußersten Notfall.

In allen Bundesländern seien Pflegekräfte auch ohne Intensivpflegefortbildung auf die Versorgung von Beatmungspatienten vorbereitet worden, so die DIVI. "Die Krankenhäuser wären somit in der Lage gewesen, auch die sogenannte Intensivbetten-Notfallreserve zu betreiben."

FAQ klären rätselhaften Bettenschwund

Die Autoren des Thesenpapiers wundern sich auch, warum trotz Epidemie die Zahl der belegten Intensivbetten konstant geblieben sei, während die Zahl der freien Betten parallel zur Gesamtkapazität abnehme: "Man kann es vielleicht mit folgenden Worten am besten ausdrücken: Diese Zahlen generieren weitaus mehr Fragen als sie beantworten. Auf jeden Fall scheint der Abfall der freien Betten eher Folge der Abnahme der Gesamtkapazität denn Folge einer vermehrten Inanspruchnahme durch Covid-19-Patienten zu sein."

Also stecken sich die Krankenhäuser Fördergelder in die Taschen und bauen sogar noch Kapazitäten ab? Die Antwort hätten die Verfasser des Thesenpapiers ebenfalls schon in den FAQ des DIVI-Intensivregisters finden können. Es geht auch hier grundsätzlich wieder darum, dass Intensivstationen nur ihre betreibbaren Betten melden sollen. Also solche, für die es auch ausreichend Personal gibt.

Zu Beginn der Pandemie sei die Personaluntergrenze bis August 2020 herabgesetzt worden, weshalb vermutlich auch viele Betten gemeldet worden seien, die nicht betreibbar waren, so die DIVI. Danach wurde die Grenze wieder eingeführt und später sogar angehoben. Das führt bei gleichbleibender Personal-Zahl zu weniger betreibbaren Betten.

Außerdem seien mit der Einführung der Notfallreserve neu geschaffene Betten umdeklariert worden, die vorher als betreibbar galten, es aber nicht waren. Schließlich seien im Herbst auch zahlreiche Mitarbeiter durch Covid-19-Infektionen oder anderen Gründen ausgefallen und der zeitliche Aufwand für die Behandlungen gestiegen.

Quelle: ntv.de


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