Sind Putins Träume von der Südukraine realistisch?

  22 April 2022    Gelesen: 907
  Sind Putins Träume von der Südukraine realistisch?

Die russische Armee spricht von der Besetzung der gesamten Südukraine als Ziel des Kriegs gegen die Ukraine. Doch selbst im Donbass kommen die russischen Truppen nur langsam voran. In der Ukraine stellt man sich auf längere Kämpfe ein. An Verhandlungen glaubt vorerst kaum jemand.

"Vor zwei Tagen hat die zweite Phase der russischen Sonderoperation begonnen. Eines der Ziele der russischen Streitkräfte ist die Herstellung der vollen Kontrolle über den Donbass und die Südukraine", sagte Rustam Minnekajew, stellvertretender Kommandeur des Zentralen Militärbezirks Russlands, an diesem Freitag bei einer Veranstaltung in Swerdlowsk. Zum ersten Mal hat Russland damit konkrete militärische Ziele in seinem Krieg gegen die Ukraine formuliert. Unter "Kontrolle über die Südukraine" ist laut Minnekajew das ganze Gebiet bis zu Transnistrien gemeint. Die südukrainischen Städte Mykolajiw und Odessa würden damit zu erklärten Militärzielen Russlands.

Bisher haben die Offiziellen in Moskau stets behauptet, das Hauptziel der sogenannten zweiten Phase wäre - neben "Entnazifizierung" und "Entmilitarisierung" - die "Befreiung des Donbass". Ob man die Aussagen von Minnekajew für die offizielle Position des Kremls halten soll, ist zwar unklar. Doch tatsächlich mehren sich die Berichte und Warnungen der ukrainischen Seite über die Vorbereitung eines "Referendums" im besetzten südukrainischen Cherson.

Anzeichen auf ähnliche Bestrebungen gibt es auch in russisch-besetzten Teilen des Nachbarbezirks Saporischschja. Die von Minnekajew ebenfalls angepeilte Landbrücke zur annektierten Krim ist ohnehin fast geschafft: Dass die Hafenstadt Mariupol fällt, ist trotz der aus ukrainischer Sicht heldenhaften Verteidigung eher eine Frage der Zeit.

Ausgangslage für die Ukraine durchaus akzeptabel

Doch auch wenn in den letzten Tagen die Verlegung weiterer taktischer Bataillonsgruppen Russlands in den Donbass registriert wurde: Die nun formulierten Ambitionen scheinen überoptimistisch zu sein. Denn große Fortschritte bei der Erreichung des strategischen Zieles der russischen Armee, die ukrainischen Truppen im Osten zu umzingeln, gibt es nach wie vor nicht - die russischen Truppen kommen nur langsam voran. Sowohl durch die grundsätzliche Verstärkung als auch durch die Verlegung von Truppen aus Mariupol können die Russen ihre zahlenmäßige Überlegenheit zwar vergrößern, doch selbst dann wäre diese keinesfalls so riesig, um von einem sicheren Sieg auszugehen, zumal die strategischen Städte Slowjansk und Kramatorsk sehr gut auf die Verteidigung vorbereitet sind.

"Bisher hat die Ukraine keine größeren Armeegruppierungen verloren. Im Donbass würden die Russen ja die am besten vorbereiteten Teile der Armee umzingeln müssen. Darüber hinaus beginnt der Westen mit der Lieferung von schweren Waffen: Die USA liefern Haubitzen", erklärt der ukrainische Sicherheitsexperte und Ex-Diplomat Olexander Chara im Gespräch mit ntv.de, warum die Ausgangslage für die Ukraine durchaus akzeptabel ist. Eine Schwierigkeit ist allerdings, dass das flache und harte Gelände im Donbass der russischen Artillerie und den Panzern besser passt als die Wälder nordwestlich von Kiew.

"Man darf die ukrainischen Kräfte hier nicht unterschätzen, wie das auch der Westen generell vor dem großen Krieg tat", wendet Chara ein. "Die erfolgreiche Manöver-Taktik hier weiterzuführen, wird schwierig, denn auch die Logistik wird für Russland einfacher. Doch sie sind für eine solche erfolgreiche Operation aus meiner Sicht schlicht nicht in der Lage."

Waffenstillstand nicht in Sicht

Mit Blick auf die weiterhin notwendige schnelle Lieferung von schweren Waffen übt Chara scharfe Kritik an Deutschland. Zugleich ist sie ein Grund, warum die Russen in den letzten Tagen gezielt die Eisenbahninfrastruktur in der ganzen Ukraine angreifen. Dass Russland selbst im Falle eines Erfolgs im Donbass ohne größere Mobilmachung erfolgreich in Richtung Mykolajiw und Odessa weiterkommen würde, ist zwar unwahrscheinlich. Die Lage im Bezirk Mykolajiw hat sich jedoch in den letzten Tagen angespannt: Jede Nacht gibt es starken Beschuss, und die Front ist von südwestlicher Richtung näher an die Stadt herangerückt. Zudem gibt es in Mykolajiw seit Tagen kein Leitungswasser, weil eine der Leitungen während der Kämpfe beschädigt wurde.

Die ukrainischen Experten sind sich einig, dass das Ende der aktiven Phase des Krieges noch überhaupt nicht in Sicht ist, zumal Minnekajews Aussagen den ohnehin schwierigen Verhandlungsprozess zwischen Kiew und Moskau noch einmal in Frage stellen, auch wenn er kein offizieller Vertreter des Außen- oder Verteidigungsministeriums ist. "Ich sehe keine Perspektiven, dass die Situation sich durch irgendwelche Vereinbarungen vor einer radikalen Veränderung der Frontlage lösen lässt", betont der Politologe Petro Oleschtschuk von der Kiewer Schewtschenko-Universität. "Russland wird versuchen, die besetzten Gebiete zu festigen, um den Russen einen Sieg zu demonstrieren. Die Ukraine wird hier aber nicht mitspielen. Denn die Okkupation von weiteren Gebieten ist inakzeptabel. Wir haben bereits gesehen, was die Russen dort machen."

Für die Ukraine ist Oleschtschuk zufolge mindestens die Rückkehr zum Status Quo vor dem 24. Februar unbedingt notwendig. "Russland hat aber die in Istanbul geäußerten Vorschläge der ukrainischen Seite de facto abgelehnt", betont der Politikwissenschaftler. "Die Grundlage dieser Vorschläge war der Rückzug der russischen Truppen auf die faktischen Grenzen vor dem 24. Februar. Dies hätte als Fundament für ein Referendum über die Neutralität und Sicherheitsgarantien für die Ukraine gedient. Etwa für die Fragen der Krim wären lange diplomatische Verhandlungen vorgesehen." Die Ausgangslage von Istanbul existiert aber laut Oleschtschuk nicht mehr. Gerade bei Bildern wie aus Butscha oder Borodjanka wird es immer schwerer, eine Einigung auf der Kompromissebene zu erreichen, während Russland verbal auf Maximalforderungen besteht, die der militärischen Lage nicht entsprechen.

Quelle: ntv.de


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