Mit dem Hauptpreis hätte die Jury noch alles retten können, die Goldene Palme für"Toni Erdmann" hätte den Publikums- und Kritikerliebling ins Recht gesetzt und das Vertrauen in den Filmverstand der Jury halbwegs gestärkt. Von wegen.
Mit "I, Daniel Blake" hat ein Film gewonnen, der weder zu den stärksten des diesjährigen Cannes-Jahrgangs gehört noch zu den überzeugendsten in Ken Loachs langer Karriere. Kein Vergleich etwa mit "The Wind that Shakes the Barley", seinem Palmengewinner von vor exakt zehn Jahren, der die Erwartungen an einen Ken-Loach-Film so souverän unterlief und ein filmisch reizvolles, moralisches komplexes Tableau von Irland während des Unabhängigkeitskrieges bot.
Von diesen Nuancen fehlt in "I, Daniel Blake" jede Spur. Der Film ist polemisch und ergreift umstandslos Partei - für die, die vom britischen Sozialstaat in Hunger, Not und Verzweiflung getrieben werden, weil Menschlichkeit in diesem System nicht die Grundlage allen Handelns ist, sondern vielmehr den Betrieb stört.
Mich interessieren nur Filme, die Zeugnis von etwas Wahrhaftigem ablegen, hat der rumänische Regisseur Cristi Puiu, der mit "Sieranevada" einen der klügsten Filme im Wettbewerb vorgelegt hat, im Interview gesagt. In dieser Perspektive ergibt der Triumph von "I, Daniel Blake" Sinn.
Doch "Toni Erdmann" steht dem Siegerfilm in Gegenwartssättigung in nichts nach. Anhand der Beziehung der karriereorientierten Tochter Ines (Sandra Hüller) und ihres chaotischen Vaters Winfried (Peter Simonischek) fächert Maren Ade die neuen Dynamiken zwischen den Generationen auf, lässt in den Alltag der globalisierten Beraterökonomie blicken und erzählt von den besonderen Herausforderungen für Frauen in dieser Arbeitswelt.
Dass sie das alles auch noch mit unendlicher Empathie und großem Humor tut, hat den Film zu der Sensation gemacht, als die er seit seiner Premiere vor einer Woche an der Croisette gefeiert wurde.
"Toni Erdmann" wird seinen Weg jedoch unbeschadet der Fehlentscheidungen der Cannes-Jury gehen, er wird die Menschen in Deutschland, wo er am 14. Juli startet, und weit darüber hinaus begeistern. Manchmal muss man eben nicht einen Film daran messen, welche Erfolge er auf einem Festival feiert, sondern ein Festival daran, welchen Filmen es eine Plattform bietet und welche es auszeichnet.
Für das deutsche Kino bedeutet "Toni Erdmann" in jedem Fall eine Zäsur, und das nicht nur, weil es der Film als erster deutscher nach sieben Jahren Abwesenheit wieder in den Wettbewerb in Cannes geschafft hat.
"Toni Erdmann" ist der Film, der das deutsche Publikum wieder daran gewöhnen sollte, vom Kino bewegt und gefordert zu werden. Im vergangenen Jahrzehnt ist diese Offenheit und diese Neugier aus vielerlei Gründen versiegt. Mehr als Unterhaltung, die aus der Gegenwart wegführt, statt sie zu erschließen, scheinen die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer nicht mehr gewollt zu haben. Nach den 162 Minuten Laufzeit von "Toni Erdmann" werden Sie sich fragen, warum Sie sich so lange mit so wenig zufrieden gegeben haben.
Dass 2016 schon jetzt ein besonderes Jahr für das deutsche Kino ist, liegt aber nicht an Maren Ade allein. Im März lief bereits Nicolette Krebitz` Ausnahmefilm "Wild" an, in dem sie in eine halb verführerische, halb dystopische Zukunft blickte, und am 2. Juni startet Maria Schraders "Vor der Morgenröte", der die letzten Lebensjahre von Stefan Zweig in sechs Episoden einfängt. Schrader gelingt mit ihrem Film ein analytisch überaus kluges, gleichzeitig aber auch zutiefst berührendes Porträt von Zweig, dessen Einsamkeit und Enttäuschung über Europas Niedergang einzigartig erfahrbar wird.
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - in ihren Filmen finden Schrader, Ade und Krebitz ganz unterschiedliche und doch gleichermaßen gelungene Zugänge zur Zeit. Dank ihrer Arbeiten kann man 2016 etwas sagen, das die längste Zeit reichlich verwegen erschien: Deutsches Kino, das muss man in diesem Jahr gesehen haben.
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