Eine welke Palme

  23 Mai 2016    Gelesen: 683
Eine welke Palme
Ein Altmeister gewinnt mit einem schwachen Film. Der Favorit "Toni Erdmann" geht völlig leer aus. Die Preisvergabe der Cannes-Jury ist ein Rätsel.

Es ist der Job einer Jury: zu überraschen. Die 69. Jury der Filmfestspiele von Cannes hat den gründlich erledigt und Maren Ades Toni Erdmann bei den Preisen übergangen, obwohl es der Film ist, über den sich wie selten zuvor in Cannes die Kritiker einig sind: Was für ein großartiges Werk! Aber eine Jury ist keine Publikumsabstimmung und auch nicht das Sprachrohr der Kritiker. Letztere vergeben schließlich ihren eigenen Preis und ehrten Maren Ade mit dem Kritikerpreis der internationalen Filmpresse.

Es gab in diesem insgesamt sehr guten Wettbewerbsprogramm neben Ades noch etliche andere bemerkenswerte Filme: Jim Jarmuschs Patterson beispielsweise. Ein leiser, überaus poetischer und wunderschöner Film über die Liebe und die Schönheit, die darin liegt, die Welt jeden Tag wie neu zu sehen. Oder den rumänischen Film Sieranevada von Cristi Puiu, ein Film über die absurde Sinnleere unseres Daseins – komisch und ernst zugleich.

Das macht nun schon drei Filme, die während der Preisverleihung am Sonntagabend in Cannes leer ausgingen. Danach befragt, berief sich Jurypräsident und Regisseur George Miller (bekannt für die Mad-Max-Filme, Ein Schweinchen namens Babe und Happy Feet) jedoch sogleich auf die Schweigepflicht sämtlicher Jurymitglieder. Kein Kommentar also.

Ein lebhafter Basar

Ausführlich indes kommentierte er die Entscheidungen, die er und seine Beisitzer schließlich getroffen haben, und dabei entstand der Eindruck, die Sitzungen der Jury ähnelten am Ende einem lebhaften Basar, auf dem, so Miller, "nichts ungesagt blieb".

Wo alles gesagt worden ist, aber noch immer keine Entscheidung steht, erzählt Miller, helfe schließlich das Reglement von Cannes. Das besagt erstens: nicht mehrere Preise an einen Film, der unter den ersten drei platziert wird (das sind Goldene Palme, Großer Preis und Jurypreis). Zweitens: Mit den restlichen Preisen (für Regie, Drehbuch, Schauspieler) darf maximal ein Film doppelt geehrt werden. Und drittens (das sagt Miller aber nicht): Ein Film, der dem Jurypräsidenten missfällt, darf keinen Preis erhalten. Dann beginnt das Handeln und Rangeln, Kompromisse müssen gefunden werden. Am Ende bekommt Ken Loach die Goldene Palme für sein Sozialdrama I, Daniel Blake.

Ken Loach gehört zu den wenigen Filmemachern, die allein schon aufgrund ihrer sehr langen Filmografie sehr sehenswerter Werke (Mein Name ist Joe, The Wind that Shakes the Barley, Angels` Share) jederzeit geehrt werden dürfen. Seinem Film I, Daniel Blake die Golden Palme zu verleihen, ist also kein Fehler.

Es ist nur leider nicht Loachs stärkster Film. Der britische Regisseur erzählt darin die Geschichte von Daniel Blake, einem rechtschaffenem Tischler, der seinen Beruf aufgrund einer schweren Herzerkrankung nicht mehr ausüben darf, durch die Strukturen des britischen Sozialsystems jedoch gezwungen wird, sich dennoch einen Job zu suchen. Während dieser Suche solidarisiert er sich mit der ebenfalls arbeitslosen Rachel, einer alleinerziehenden Mutter zweier Kinder.

Die Botschaft ist zu aufdringlich

Auch diesmal wachsen uns Loachs Figuren binnen weniger Filmminuten ans Herz: weil sie hübsche Fischmobiles schnitzen (Daniel), weil sie Hilfe leisten, wenn sie merken, dass jemand Hilfe braucht (Daniel und Rachel), weil sie den Menschen sehen und nicht die Funktion, die er innehat (alle Figuren aus dem sozial benachteiligten Milieu).

Kurzum: I, Daniel Blake ist ein echter Ken Loach. Genau das ist am Ende aber auch sein kleines Problem. Loach und sein langjähriger Drehbuchschreiber Paul Laverty wirken ein wenig wie ein altes Ehepaar, das mal wieder sein Leibgericht gekocht hat: Das britische Sozialsystem ist problematisch, weil es Menschen zu Nummern macht. Nur diesmal schmeckt die Botschaft ein wenig zu aufdringlich und wird uns serviert wie die Worte, die Blake irgendwann an die Wand des Sozialamts malt: übergroß.

Kotzendes Ektoplasma

Die zweite Entscheidung, die am Abend der Verleihung Widerspruch provozierte, war der Regiepreis für Olivier Assayas` Personal Shopper. Es ist eine merkwürdige Gespenstergeschichte, die eine hervorragende Kristen Stewart nahezu im Alleingang bestreitet. Weil sie ihren verstorbenen Zwillingsbruder vermisst, versucht Maureen (Stewart) mit ihm aus dem Jenseits Kontakt aufzunehmen. Wer aber dann tatsächlich Kontakt mit ihr aufnimmt, ist zunächst ein kotzendes Ektoplasma und später dann ein mysteriöser Stalker.

Auch die britische Regisseurin Andrea Arnold, die für ihren Film American Honey mit dem Jurypreis geehrt wurde, war während des Festivals nicht nur gefeiert worden. Sie erzählt die Geschichte der Ausreißerin Star, die sich einer Drückerkolonne aus drogenabhängigen Jugendlichen anschließt. Ihre durchweg jugendlichen Protagonisten wirken dabei zu disparat, sie scheinen kaum Entwicklungen durchzumachen. Interessant war die Begründung der Jury: Sie lobte insbesondere das seltene 4:3 Format des Films. Damit würde sich American Honey als echter Kinofilm wohltuend vom üblichen TV-Format abheben. Es hätte ruhig ein bisschen mehr sein dürfen.

Quelle: zeit.de

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