Was soll der Mensch denn eigentlich essen? Wer an einen Schöpfer glaubt, könnte sich vorstellen, dass der sich das genau überlegt hat: Fleisch ja, Milch nein, Zucchini ja, grüne Smoothies ja und so weiter. So wie in der Zigarettenautomatenfabrik festgelegt wird, welche Münzen so ein Automat verdauen kann. Pech für den, der die sechs Euro nur zusammenkriegt, wenn er den Automaten auch mit dem Kupfer aus dem Portemonnaie füttert. Das gibt dann Automatendurchfall, denn Kupfer verträgt der nicht.
Doch wir sind keine Maschinen und die Menschheit verändert sich stetig. Vor rund 7.000 Jahren fehlte fast allen Menschen im Erwachsenenalter das Enzym Lactase, um die Laktose, also den Milchzucker zu verdauen. Die Evolution beseitigte das Problem in weiten Teilen Europas. In Deutschland sind heute nur noch etwa 15 Prozent der Bevölkerung laktoseintolerant. Und nur rund 1 Prozent leidet an einer Glutenunverträglichkeit. Trotzdem greifen weitaus mehr Menschen zu entsprechenden Ersatzprodukten. Der Barista in meinem Stammcafé berichtet, dass fast die Hälfte seiner Kundschaft nach laktosefreier Milch oder Soja fragt. Sind die alle vegan? Unwahrscheinlich. Warum also haben so viele das Gefühl, auf das eine oder andere Lebensmittel verzichten zu müssen?
"Das passiert in deinem Körper, wenn du…" schreien mich die Überschriften Dutzender Artikel auf Facebook an. Da geht es nicht allein um Laktose oder Gluten. Es geht um jene Produkte, die man auf keinen Fall und solche, die man auf jeden Fall essen sollte: die Superfoods und Wunderingredienzien. Die beschwörenden Pamphlete locken mit ultimativen Heilsversprechen. Unternehmen wie Schneekoppe sind erfreut über die Entwicklung, im Supermarkt hat man den glutenfreien Produkten gerade noch ein weiteres Regal eingeräumt.
Viele Dinge können uns Bauchschmerzen bereiten. Die Psychoanalyse weiß, dass in den meisten unserer täglichen Aussprüche eine verborgene Wahrheit steckt. Nicht wenige beziehen sich auf den Verdauungsapparat. "Das finde ich zum Kotzen", "Wut runterschlucken", oder eben das berühmte "das bereitet mir Bauchschmerzen". Metaphern, die in unseren allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen sind. Es mag die Beziehung sein, die uns auf den Magen schlägt, oder der Job. Essenzielle Bereiche des Lebens, in denen eine Veränderung oftmals aus verschiedensten Gründen nicht infrage zu kommen scheint. Das macht es schwer, sich einzugestehen, dass die Bauchschmerzen eigentlich Herzschmerzen sind. Man kann nichts tun, man kann nichts ändern.
Aber was, wenn die Bauchschmerzen eine andere Ursache hätten? Wenn es einen Feind gäbe, den man einfach so aus seinem Leben verbannen könnte? Dann lässt man die Milch weg, oder den Zucker, oder erst mal nur Weizen. Und die Bauchschmerzen werden wirklich weniger. Weil es sich gut anfühlt, die Initiative zu ergreifen, weil man ein kleines Stück Kontrolle reklamiert. Placeboeffekte sind real. Sie sind toll. Manchmal bedeutet es, dass gar keine "echte" Medizin mit Risiken und Nebenwirkungen mehr eingenommen werden muss. Körper und Geist heilen gemeinsam. Das Problem besteht darin, dass die Besserung nicht lange anhält. Denn die Beziehung ist kaputt, der Job ist schrecklich. Die Bauchschmerzen kehren zurück, obwohl man keine Milch mehr trinkt, aber eines Tages erwähnt eine Freundin die Sache mit dem Gluten und der nächste Schritt ist fast getan. Natürlich. Gluten verursacht die Bauchschmerzen. Vollkommen logisch. So verschiebt sich der Fokus immer mehr auf das körperliche Wohlergehen. Die Beziehung, oder der Job werden zur Nebensache, wenn die Obsession mit richtigem, gesundem Essen erst mal zu Hauptsache geworden ist.
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