In einem anderen Kurs erzählte ich den Schülern von einem Video, das zeigte, wie ein 15-jähriges Mädchen in Österreich krankenhausreif geprügelt wurde. Es war millionenfach angeklickt worden. Facebook wies zunächst darauf hin, dass der Film "nicht gegen Gemeinschaftsstandards" verstoße. Erst nach massiven Protesten wurde er gelöscht. Ich sprach das Thema im Unterricht an, weil mich die Meinung der Schüler interessierte. Und niemand, wirklich niemand hatte Verständnis für Facebooks anfängliche Haltung. Ein Schüler schüttelte verächtlich den Kopf und sagte, dass "jede Brustwarze" sofort entfernt werde, aber Gewaltvideos auf Facebook ständig zu sehen seien.
Ich selbst liebe diese Diskussionen und frage immer wieder nach, weil ich dazulerne: Schüler sind für mich Experten auf diesem Gebiet und die charmantesten Nachhilfelehrer, die man sich vorstellen kann. Und da ich eh nicht zu ihrem Freundeskreis gehöre, finden Sie es nicht weiter "schlimm", dass ich selbst nicht auf Facebook bin.
Die Bedeutung von Facebook wurde mir vor Jahren erstmals bewusst, als Schüler auf einmal Sätze mit "Auf Facebook stand, dass ... " begannen. Und sie glaubten alles, was "auf Facebook stand".
Eine ganz besondere Form der Freiheit
Und die Lehrer? Gefühlte 99,9 Prozent der unter 40-Jährigen sind ebenfalls auf Facebook. Mich verblüfft immer wieder, wie genervt dabei mancher von dem Netzwerk ist. Erst vor Kurzem hat ein Kollege über "den ganzen Mist" geklagt, den er lesen und beantworten müsse.
Eine Sache ist und bleibt mir bei aller Liebe zu meinen Schülern und meinen Kollegen ein Rätsel: Warum meldet sich trotz Hetze, Gewaltvideos, Fake News und Zeitraubs eigentlich kaum jemand von Facebook ab? Ist es inzwischen so eine Art Konsens, dass man ohne Facebook sozial tot ist? Und wenn das der Grund sein sollte: Ist Facebook dann nicht längst mehr eine Art Sekte als ein "soziales Netzwerk"?
Als ich neulich einem Bekannten erzählte, dass ich selbst nicht auf Facebook sei, wunderte er sich. Ob ich denn Freunde habe, wollte er wissen. Und ob man es mir glaubt oder nicht: Ja, die habe ich! Ich kommuniziere und verabrede mich sogar mit ihnen. Und ich gehe ins Kino, ins Theater und in Konzerte. Und dass ich mich nie über irgendwelchen geposteten Blödsinn aufrege oder zwanghaft darauf reagiere, empfinde ich als eine ganz besondere Form der Freiheit.
Quelle : spiegel.de
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