Der Musik-Rebell, der recht behielt: Nikolaus Harnoncourt ist tot

  07 März 2016    Gelesen: 1313
Der Musik-Rebell, der recht behielt: Nikolaus Harnoncourt ist tot
Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt ist in Wien gestorben. Er hat im deutschsprachigen Raum die Aufführungspraxis durchgesetzt und damit die Alte Musik einem Millionenpublikum erschlossen. Er war eine der überzeugendsten Persönlichkeiten des europäischen Musiklebens.






Nikolaus Harnoncourts Name steht für die Neuentdeckung der Alten Musik. In seinem richtungweisenden Buch «Musik als Klangrede» erläutert er schlüssig, was ihn dazu gebracht hat, sich vollends der sogenannten Aufführungspraxis zu verschreiben: Er sei einmal als junger Cellist ins Wiener Musikinstrumente-Museum gegangen und habe sich beim Anblick der Instrumente gefragt: Wie kann es sein, dass eine Epoche wie das Barock so sinnliche Instrumente hervorbringt, die Musik dagegen so langweilig klingt? Zu diesem Zeitpunkt wurden Bach und Händel von romantischen Symphonieorchestern aufgeführt und klangen im Grunde wie ein Brei. Der Grund liegt in der Stimmung der Instrumente, in der Art, wie ein Ton erzeugt wird, und in der technischen Ausstattung wie Bogen und Saiten.

Nikolaus Harnoncourt hat die Alte Musik nach Mitteleuropa zurückgebracht. In England gibt es eine ungebrochenere Tradition, doch in Deutschland und Österreich hatten die modernen Orchester mit dem romantischen Repertoire eine dominante Stellung übernommen. Barock galt bestenfalls als Musik zum Aufwärmen für die Musiker. Bestimmte Komponisten wie Monteverdi waren erst gar nicht im Repertoire zu finden.

Harnoncourt hat auch der Klassik neues Leben eingehaucht: «Musik muss die Seele aufreißen», war seine Überzeugung. In der Interpretation des Werkes von Johann Sebastian Bach, Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven und Wolfgang Amadeus Mozart setzte der Österreicher Maßstäbe. Zuvor hatte der Grazer Karl Böhm als das Maß aller Dinge gegolten. Doch Harnoncourt entschlackte die Besetzungen, arbeitete penibel an Phrasierungen und Dynamik und zeigte, dass auch die Klassik nicht glatt ist, sondern von vielen Mikrokosmen lebt. Seine Einspielung der Bach-Kantaten ist bis heute stilbildend.

Harnoncourts bleibendes Verdienst besteht darin, dass er die Alte Musik nicht bloß neu entdeckt hat. Er hat in seinen späteren Jahren mit modernen Orchestern gearbeitet und ihnen beigebracht, dass es auch ohne Original-Instrumente möglich ist, die Essenz der Musik aus Barock und Klassik zu erfassen und wiederzugeben. Seither haben fast alle großen Orchester und die traditionellen Chöre im Hinblick auf Größe, Phrasierung, Dynamik und Tempo umgerüstet. Harnoncourt hat die Alte Musik aus ihrem Elfenbeinturm geführt und sie mitten in die modernen Konzertsäle gesetzt. Es gibt wenige Musiker, die eine solche Wirkung entfaltet haben.

An seinem 86. Geburtstag im vergangenen Dezember hatte er bekanntgegeben, dass er sich vom Pult zurückzieht: «Meine körperlichen Kräfte gebieten eine Absage meiner weiteren Pläne.» In seinem kurzen Abschiedsbrief im Programmheft des Wiener Musikvereins schrieb er aber auch an das Publikum: «Wir sind eine glückliche Entdeckergemeinschaft geworden.»

Harnoncourt war einer, der immer wieder überraschte und unerwartete Wege einschlug. Als junger Cellist verschrieb sich der Musiker in den 1950er Jahren der damals gering geschätzten Alten Musik. Gemeinsam mit seiner Frau Alice Hoffelner gründete er mit 23 Jahren den Concentus Musicus als jene Formation, die auf historischen Instrumenten die Welt der Alten Musik erforschte und auf neue Art umsetzte.

Beharrlich, gegen viele Widerstände ankämpfend und Gewohnheiten in Frage stellend, erarbeitete er sich eine Position als Barock-Koryphäe und Pionier der Originalklang-Bewegung. Ab den 1970er Jahren vermittelte er sein musikalisches Lebensthema als Professor im Salzburger Mozarteum. Dann wieder hob er, etwa mit Regisseur Jürgen Flimm, höchst amüsante und detailreich verspielte Operetten-Inszenierungen aus der Taufe.

Zu Beginn des Jahrtausends überraschte er bei den Salzburger Festspielen mit einem düsteren Don Giovanni in der Regie von Martin Kusej und wurde in der Folge zum stilbildenden Dirigenten von Mozartopern in der Festspielstadt. Schließlich machte er vor Alban Berg und George Gershwin nicht Halt und erforschte mit musikalischer Leidenschaft das 20. Jahrhundert.

Harnoncourt führte in seiner Ahnenreihe mütterlicherseits zwar keinen Geringeren als den steirischen Habsburger-Erzherzog Johann und väterlicherseits die luxemburgisch-lothringischen Grafen de la Fontaine und d’Harnoncourt-Unverzagt, wuchs aber materiell wenig begünstigt auf. Er wurde am 6. Dezember 1929 in Berlin geboren und verbrachte Kindheit und Jugend im österreichischen Graz.

Wollte er zunächst seine frühe Leidenschaft für das Schnitzen und Spielen von Marionetten zum Beruf machen, entschied er sich mit 17 Jahren für die Musik. Er lernte Cello, studierte an der Wiener Musikakademie und gründete als 20-Jähriger ein erstes Gamben-Quartett. Dass das rebellisch-verschrobene Interesse des jungen, als kritisch, eigenwillig und hoch intelligent beschriebenen Musikers einst die Interpretationsgeschichte prägen und ein prägender Trend würde, war in den kargen Anfangsjahren nicht abzusehen.

In Wiener Kreisen hieß es spöttisch: «Die Harnoncourts sitzen auf Apfelkisten unter ihren teuren Geigen und ernähren sich von Erdäpfeln und Salat». Mit seiner Frau Alice, die sich als Konzertmeisterin seines Ensembles um solistische Brillanz, gleichzeitig um alles Organisatorische kümmerte und ihm seine geliebten Holzfällerhemden in Zehnerpacks beschaffte, bekam er vier Kinder in acht Jahren.

Auch bei den großen Festivals war es zunächst undenkbar, dass Harnoncourt eingeladen wurde. Er galt als schräger Vogel, dem das Musik-Establishment erst gar nicht zuhören wollte. Der tiefere Grund lag allerdings auch darin, dass im Grunde jeder Musiker erkannte, dass Harnoncourt nicht einem Spleen frönte, sondern sachlich recht hatte: Musik des Barock und der Renaissance funktioniert nicht, wenn sie in das moderne Kriterium der Klangfläche gezwungen wird. Sie kommt von der menschlichen Stimme und kann nur mit der entsprechenden Artikulation so wiedergegeben werden, dass sie ihre Emotion entfaltet. Für viele moderne Orchester war dieses Klangideal nicht zu erreichen. Daher versuchte man zunächst, Harnoncourt zu marginalisieren. Nur wenige hätten sich damals vorstellen können, dass Harnoncourt eines Tages wie in einem Triumphzug alle großen Häuser der Welt erobern sollte.

Nach Jahren der aufreibenden Doppelexistenz als Cellist der Wiener Symphoniker mit enormen Dienstverpflichtungen und als Leiter des überragenden Concentus Musicus mit einer Vielzahl von eigenen Konzerten erntete Harnoncourt ab Mitte der 1970er Jahren die Früchte seiner Überzeugung. Sein Monteverdi-Zyklus am Opernhaus Zürich gemeinsam mit Regisseur Jean-Pierre Ponnelle schrieb Aufführungsgeschichte und markierte den Beginn einer neuen Auseinandersetzung mit der Barockoper.

Er hatte recht behalten – und mit seiner Art der Interpretation von Alter Musik, Barock, Klassik und auch Romantik einen Maßstab durchgesetzt, der heute unter Musikern völlig unumstritten als der Standard gilt.

Als Leiter von Orchestern wie dem Concertgebouw-Orkest Amsterdam, dem Chamber Orchestra of Europe oder den Wiener und Berliner Philharmonikern wurde Harnoncourt zu einem Weltstar. Als leidenschaftlicher Musiker und Lehrender kämpfte er um musikalische Tiefe. Als Musikphilosoph und Vater verwies er auf die Bedeutung der Kunst für das menschliche Dasein: «Die Kunst ist eben keine hübsche Zuwaage rpt Zuwaage – sie ist die Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet, sie garantiert unser Mensch-Sein».

Nikolaus Harnoncourt dirigierte in einem seiner letzten Konzerte im Sommer 2015 Beethovens Missa Solemnis in Salzburg. Er war schon gebrechlich, schaffte es kaum bis auf das Podium. Doch nachdem er seinen Krückstock abgelegt hatte, entfesselte er die Musik mit einer Macht, die alle körperlichen Gebrechen vergessen macht. Man konnte bei diesem Konzert eine Vorahnung von der Idee der Unsterblichkeit erhalten.

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