Boatengs Kamikaze und Müllers neues Hobby

  07 September 2018    Gelesen: 959
Boatengs Kamikaze und Müllers neues Hobby

Ist das der versprochene Neuanfang? Zumindest schlägt sich die deutsche Fußball-Nationalelf im ersten Spiel nach dem WM-Debakel ordentlich, Kamikaze-Klärung und Ochsenabwehr inklusive. Und das gegen Weltmeister Frankreich. Geht doch.

Wenn es das Ansinnen der deutschen Fußball-Nationalelf war, nach einem total missratenen Turnier in Russland gegen den Weltmeister ordentlich auszusehen, dann hat das gut funktioniert. Das 0:0 gegen Frankreich an diesem Donnerstagabend vor 67.485 Zuschauern im ausverkauften Stadion in München war nichts, wofür sich das DFB-Team schämen muss, das bei der WM als Titelverteidiger in der Vorrunde ausgeschieden war. Mehr noch: Mit ein wenig mehr Glück hätte es für die Mannschaft von Joachim Löw beinahe gar zu einem Sieg im ersten Spiel in der neuen Nations League gereicht.

War das jetzt der versprochene Neuanfang? Zumindest war es, mit elf WM-Teilnehmern in der Startformation, ein Schritt in die richtige Richtung. Die Fans honorierten das mit wohlwollendem Applaus, und der Bundestrainer durfte zufrieden und unwidersprochen konstatieren: "Das war auch meine Erwartung, dass wir unabhängig vom Ergebnis ein anderes Gesicht, ein anderes Auftreten zeigen." Am Sonntag geht es dann ins Sinsheim (ab 20.45 Uhr im Liveticker bei n-tv.de) in aller Freundschaft gegen Peru. Bis es soweit ist, hier erst einmal die deutschen Spieler in der Einzelkritik.

Manuel Neuer: Der Torhüter ist nicht mehr nur Kapitän und WM-Chefkritiker. Nach dem freiwilligen Rücktritt Mario Gomez' und dem unfreiwilligen von Sami Khedira ist er als einziger Ü30er mit seinen 32 Jahren auch der unumstrittene Oldie. Hält trotzdem goldig und Kurs auf die magische Marke von 100 Länderspielen. Bestritt in seinem Münchner Heimstadion gegen den schönst möglichen Gegner DFB-Einsatz Nummer 80 und war passenderweise ganz in Rot gewandet. Und er spielte erstmals seit, Obacht, Oktober 2016 wieder zu Null im Nationaltrikot. Musste dafür aber mächtig liberosieren und parieren gegen den Weltmeister. Zum Beispiel in der 36. Minute, als er es mit einer echten Rarität zu tun bekam: einem Torabschluss von Olivier Giroud. Er entschärfte den tückischen aufsetzenden Kopfball aber mit ebenso titanesker Anmutung wie in der 49. und 64. Minute zwei Schüsse von dessen Sturmkollegen Antonie Griezmann. Danach vornehmlich als Libero gefragt. Kann er auch.

Matthias Ginter: Der 24 Jahre alte Gladbacher ist der spezielle WM-Spezialist im DFB-Team. Er war 2014 und 2018 dabei, absolvierte aber bei den zehn deutschen Spielen exakt 0 Minuten. Durfte dafür im ersten Nach-WM-Spiel von Beginn an ran, auf ungewohnter Position. Übernahm im 19. Länderspiel den Rechtsverteidigerposten von Umschüler Joshua Kimmich (siehe unten) und zeigte eine konzentrierte Leistung, Luft nach oben bei den Flanken - und Leidensfähigkeit. Er ging dorthin, wo es weh tut und wo ihm der Gegner auch wehtat. Revanchierte sich in der 38. Minute mit einem rustikalen Zweikampf an Matuidi, nach dem Stefan "Ich will mehr Zweikämpfe sehen" Effenberg sicher ein Freudentränchen über die Wange kullerte. War in der 65. Minute am bis dahin schönsten Angriff beteiligt, als er nach einem feinen Kombinationskonter flach auf Reus passte, dessen Schuss Frankreichs Alphonse Areola aber stark parierte. Das galt auch für die Minute 75, als er mit grandiosem Unterarmreflex Ginters Kopfball parierte und dessen erstes DFB-Tor verhinderte. In der 90. Minute rettete Ginter in höchster Not vor Tolisso, damit die Nullnummer. Er dürfte weitere Einsatz-, Retter- und Torchancen bekommen.

Jérôme Boateng: Der 30 Jahre alte Innenverteidiger des FC Bayern traf beim Einschießen den Pfosten, es blieb die auffälligste Offensivaktion in seinem 74. Länderspiel. War von seinem zweiten DFB-Tor damit aber deutlich weiter entfernt als von seinen Gegenspielern. Er packte nur selten seine berühmt-berüchtigten Diagonalbälle aus, leitete mit einem auf Timo Werner aber in der 18. Minute den ersten deutschen Abschluss ein. Größter Aufreger: Eine Kamikaze-Klärung in der 30. Minute, als er es für geschickter hielt, den Ball vom linken Strafraumrand hoch nach rechts vors eigene Tor zu bolzen, statt ins Aus - wie es Fünfjährigen beigebracht wird. Das blieb folgenlos, Boateng sollte das dennoch in der nächsten "Boa"-Ausgabe in einem Essay erläutern. Sogar ein Leitartikel-Thema: das Händchenhalten mit Olivier Giroud nach einer Ecke, der ihm erst aufhalf und dann nicht mehr losließ. Ebenfalls erwähnenswert: Eine halbe Heldengrätsche bei Pass auf Kylian Mbappé - und ein Laufduell mit dem pfeilschnellem Jungstar, in das Thomas Müller mit doppelter Schlampigkeit die DFB-Abwehr gezwungen hatte. Ging aber gut aus - und es sah auch meist gut aus, was Boateng defensiv trieb.

Mats Hummels: Der Münchner ist mit seinen 29 Jahren ein Innenverteidiger mit Drang nach vorne, was in Frankreich seit dem WM-Viertelfinale 2014 bestens bekannt ist. Seine Vorwärtsverteidigung war auch in Russland beim historischen K.-o. gegen Südkorea zu bestaunen, als er torgefährlichster DFB-Kicker war - nur leider den Ball nicht aufs Tor brachte. Machte das nun in der 35. Minute erst genauso, als er frei einen Kopfball am Tor vorbei bugsierte. Machte es dann in der 72. Minute besser, als er nach einem von ihm inszenierten Konter inklusive 60 Meter Sprint in den Strafraum an Areola verzweifelte - und am Teamkollegen Müller, weil der zuvor seine Flanke nicht direkt aufs Tor geköpft hatte. Fasste sich deshalb mehrfach verzweifelt an den Kopf, ließ aber ansonsten in seinem 67. Länderspiel die Franzosen verzweifeln. War immer wieder letzte Klärungsinstanz, rückte bisweilen arg weit heraus, antizipierte aber meist richtig, verlor keinen wichtigen Zweikampf und kurbelte vor allem in der zweiten Halbzeit die Offensive mit an. Und: War nach dem Abpfiff der Erste, der sein Trikot den Fans schenkte. Starke Geste, starke Leistung.

Antonio Rüdiger: Der 25 Jahre alte Chelsea-Profi durfte im 26. Länderspiel links in der Viererabwehr Jonas Hector vertreten. Damit komplettierte er das Revival der Vier-Innenverteidiger-Abwehrkette von der WM 2014 in Brasilien. Und er hatte die Aufgabe, Frankreichs Sturm-Wunderkind Mbappé zu betreuen. Undankbarere Jobs haben im deutschen Fußball nur DFB-Boss Reinhard Grindel und die Interview-Gegenleser von Oliver Bierhoff. Rüdiger erledigte seine Aufgabe ordentlich, was auch an der ordentlichen Hilfe des Offensivkollegen Timo Werner auf seiner linken Seite lag. Auch mit Müller klappte das gut. Traf wie Boateng beim Aufwärmen den Pfosten, leitete in der achten Minute aber zudem per Einwurf auf Kroos eine geniale Diagonalverlagerung auf Müller ein, dessen Volleyflanke Lucas Hernández‘ Knie ins Toraus bugsierte. Da ging ein Raunen durchs Stadion. Das war auch in der 35. Minute so, als er nach Ecke von Toni frei zum Kopfball kam - und komplett verzog. Oder bei zwei, drei Offensivszenen, als er aus viel Platz wenig machte, er ist halt Innenverteidiger. Wurde beim Gang in die Kabine von Kapitän Neuer mit einem Monolog bedacht, fiel danach weniger auf.

Joshua Kimmich: Bestritt trotz seiner erst 23 Jahre schon sein 33. Länderspiel im DFB-Team, mutierte dabei vom Musterschüler zum Musterumschüler. Der Münchner wurde im Schnapszahl-Länderspiel ins defensive Mittelfeld versetzt, obwohl er rechts in der Abwehr trotz teils eklatanter WM-Balance-Probleme eigentlich auf Lahm'eske Weise als unabkömmlich galt. Hatte auf eine entsprechende Umschulungs-Mutmaßung der "Süddeutschen Zeitung" keck geantwortet: "Eigentlich gibt es keine andere Option, oder?" Und dann angefügt: "Falls es so kommen sollte: Ich wäre bereit." War er dann auch: Kimmich überzeugte hinter Kroos durch Ballsicherheit, Zweikampfstärke und Ruhe. Er spielte nicht die spektakulären Pässe, aber die wichtigen. Nahm durch seine Präsenz, seine Über- und Umsicht viel Druck von der Innenverteidigung und war ein entscheidender Faktor dafür, dass die französischen Kontermonster kaum zu Monster-Kontern kamen. Versuchte sich in der Schlussphase auch ein-, zweimal an Diagonallupfern in des Gegners Strafraum, als er auch hätte schießen können. Hat das Potenzial, sich in der Mittelfeldzentrale festzuspielen - und auch den Willen.

Leon Goretzka: Der 23 Jahre alte gebürtige Bochumer und nun Ex-Schalker hat sich in dieser noch so jungen Saison beim FC Bayern schnell und gut eingelebt. Bei der DFB-Elf fällt ihm das noch schwer. Um es vorsichtig zu formulieren: Sein 17. Länderspiel war nicht sein bestes. War er am Ball, wirkte er oft hektisch und insgesamt etwas verloren, ohne Bindung zur Mannschaft und zum Spiel. Klar, auch er erledigte defensiv seine Aufgaben und stellte sich Frankreichs N'Golo Kanté in den Weg, aber für den Angriff lieferte er zu wenig. Dabei ist er doch so ein feiner Fußballer. In München aber zeigte er das selten, so war es wenig überraschend, dass der Bundestrainer ihn als ersten auswechselte. Nach 66 Minuten kam der vier Jahre ältere Ilkay Gündoğan von Manchester City in die Parte und somit zu seinem 28. Länderspiel. Und ja, es gab auch in München einige Zuschauer, die ihn mit Pfiffen begrüßten, weil sie ihm offensichtlich die unseligen Fotos mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan immer noch nachtragen. Davon beeindrucken ließ er sich nicht, war sofort im Spiel, schoss zweimal aufs Tor und brachte auch unter Druck den Ball stets sicher zum Mitspieler.

Toni Kroos: Bekam vorher einen Blumenstrauß von DFB-Präsident Grindel, weil Sportjournalisten ihn, also Kroos, zum Fußballer des Jahres gewählt hatten. Die 28 Jahre alte Passmaschine von Real Madrid glänzte in seinem 87. Länderspiel mit seiner Sicherheit am Ball, in der ersten Halbzeit spielte er 35 Pässe, 35 kamen an. Am Ende waren es 95, von denen nur sechs nicht den richtigen Abnehmer fanden. Fühlte sich in seiner neuen, offensiveren Rolle am linken Ende des Dreiermittelfeldriegels vor der Ochsenabwehr und mit Kimmich als Absicherung wohl und war so etwas wie der Chef im Mittelfeld, auch wenn ihm der, wenn nicht alles, so doch das Spiel entscheidende Pass nicht gelang. Und auch er - hört, hört - engagierte sich fast leidenschaftlich in Sachen Defensivarbeit.

Thomas Müller: Das Wort "gallig" gibt's auch nur in der Sprache des Fußballs, oder? Zumindest hatte sich der 28 Jahre alte Offensivspieler des FC Bayern in seinem 95. Länderspiel vorgenommen, sich mal richtig reinzuhauen. Was er auch tat. Für die linke offensive Außenbahn nominiert, wechselte er nicht nur bisweilen mit Timo Werner die Seite, er tauchte zum Beispiel in der ersten Halbzeit auch an der eigenen Eckfahne auf, um dort den Kollegen zu helfen. Versicherte glaubhaft: "Es macht großen Spaß, diese Zweikämpfe zu führen." Klingt nach neuem Hobby. Alle hielten sich an die Maßgabe des Trainers, gefälligst auch in der Abwehr auszuhelfen, Müller war das leuchtendste Beispiel dieser Linientreue. Und offensiv? Ähm, da war er nicht so erfolgreich. In der 72. Minute setzte ihn Hummels gut in Szene, doch anstatt den Ball direkt aufs Tor zu köpfen, nahm Müller ihn erst mit der Brust an und verdaddelte die Chance. Drei Minuten später missglückte ihm eine Flanke, die dann zu einem leidlich gefährlichen Torschuss mutierte. Oder war das Absicht?

Timo Werner: Schnell ist er ja, der 22 Jahre alte Angreifer der Rasenballsportler aus Leipzig. In seinem 18. Länderspiel kam er auf der linken Außenseite und wechselte, wir erwähnten es, gelegentlich mit dem Kollegen Müller die Seiten. Grundsätzlich bestand sein Problem darin, dass er seine Schnelligkeit zu selten ausspielen konnte. Einmal, nach 18 Minuten, versuchte er es mit einem flachen Schuss vom linken Strafraumeck, nachdem er Frankreichs Stuttgarter Benjamin Pavard hatte aussteigen lassen. Immerhin: Er ließ sich nicht beirren, versuchte es weiter mit seinen Sprints über den Flügel, fand aber in der Mitte zu selten jemanden, der mit seinen Pässen etwas anfangen konnte. Und, das nur am Rande: Die Schwalbe nach einer halben Stunde hätte er sich sparen können.

Marco Reus: Echte Neun, falsche Neun, gar keine Neun? Der 29 Jahre alte Dortmunder jedenfalls lief in seinem 35. Länderspiel als Mittelstürmer auf. Mario Gomez ist ja nicht mehr dabei, und für Sandro Wagner gibt es kein Zurück nach seinem Rücktritt, wie der Bundestrainer vor der Partie bekräftigt hatte. Tja, kein leichter Job gegen eine Mannschaft, bei der Koryphäen wie Raphaël Varane von Real Madrid und Samuel Umtiti vom FC Barcelona in der Innenverteidigung stehen. Seine beste Chance hatte Reus in der 65. Minute, als er nach einem flachen Zuspiel Ginters direkt aufs Tor schoss. Doch Areola wehrte bei seinem Debüt für die Équipe den Ball prima ab. Ab der 83. Minute spielte der 22 Jahre alte Leroy Sané von Manchester City für ihn auf den Rasen. Für nachhaltige Akzente in seinem 13. Länderspiel reichte das nicht, zumal er mit seinem ersten Dribbling gleich hängenblieb. Immerhin darf er von sich behaupten, der einzige deutsche Spieler auf dem Platz gewesen zu sein, der völlig unschuldig am WM-Debakel ist - der Bundestrainer hatte ihn bekanntlich nicht mitgenommen.

Quelle: n-tv.de


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