Der Samstag war vom selbsternannten Interimspräsidenten Juan Guaidó zum Tag der Entscheidung erkoren worden: Die Hilfsgüter aus dem Ausland sollten nach Venezuela rollen. Guaidó hatte sein Schauspiel gekonnt in Szene gesetzt: Am Donnerstag stellte er sein erstes präsidentielles Dekret aus. Am Freitag fand ein Benefizkonzert im Nachbarland Kolumbien statt, er reiste selbst an, schüttelte Hände mit den konservativen Präsidenten Iván Duque aus Kolumbien und Sebastian Piñera aus Chile, auch mit Luis Almagro, dem Vorsitzenden der Organisation Amerikanischer Staaten. Guaidó appellierte an die venezolanischen Soldaten über die sozialen Medien, sie sollten sich auf seine Seite stellen. Jeder seine Schritte wurde von Medien begleitet. Am Samstag stieg er sogar selbst ins Führerhaus eines der Lkw.
Spätestens als auf einer Grenzbrücke zwischen Kolumbien und Venezuela Flammen von zwei Hilfszügen loderten, begann der Kampf um die Deutungshoheit. Wer hatte die Güter in Brand gesteckt? Lateinamerikanische Medien verbreiteten unterschiedliche Versionen, je nach politischer Orientierung. Waren es die venezolanischen Grenztruppen, die friedliche Demonstranten aufhalten wollten? Waren es "falsos positivos", also von Guaidó Angeheuerte in Uniform, um Präsident Nicolás Maduro zu dämonisieren? Oder war es schlicht Zufall, dass die Tränengaskartuschen die Abdeckplanen in Brand setzten? Die Antwort: Es ist nicht nachprüfbar. Was bleibt, sind der Kampf um die Deutungshoheit und die humanitäre Katastrophe.
Die Situation an Venezuelas Grenzen am Wochenende war mehr als heikel. Es gab Tote und Verletzte. Aber kein Bürgerkrieg brach aus, der autokratische Maduro sitzt noch immer im Präsidentenpalast von Caracas, das Militär an seiner Seite. Was muss geschehen, damit den Menschen endlich ausreichend geholfen werden kann? Besonders die Vereinigten Staaten sind wegen ihrer historischen Rolle gefragt. Ihr Verhalten ist mitentscheidend über die Zukunft des Landes und der Region. Doch ihre Verantwortlichen gebaren sich wie in alten Zeiten: Es wird zwar geholfen, aber auch gedroht. Es wird kommuniziert, aber von oben herab mit noch höherem Zeigefinger. Wenn die USA die Zeichen nicht erkennen können, müssen sie sich eben komplett heraushalten.
US-Außenminister Mike Pompeo teilte nach den verhinderten Hilfslieferungen mit, die Vereinigten Staaten würden "handeln und diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die sich gegen die friedliche Wiederherstellung der Demokratie" wenden. Maduro nannte er einen "kranken Tyrannen", dessen Tage gezählt seien. Für einen Populisten wie Maduro sind solche Attacken des ideologischen Rivalen versilberte Propagandamunition. Mit ihrer Rhetorik tun die USA derzeit das Gegenteil dessen, was nötig wäre: Deeskalation statt Provokation; nicht ein Brüllduell der starken Männer akzeptieren, sondern zielführend im Hintergrund agieren.
Die Zeit unter Hugo Chávez bleibt für viele ärmere Venezolaner das goldene Zeitalter. So schlimm die Lage auch ist, Maduro ist noch immer sein ideologischer Nachfolger. Die USA hingegen sind ein schwarzes Tuch - nicht nur infolge der sozialistischen Propaganda, sondern aufgrund historischer Fakten. Als Chávez im Jahr 2002 die Führung des staatstragenden Ölkonzerns PDVSA austauschte, um mehr Kontrolle zu erlangen, putschte das Militär. Die USA unterstützten den Staatsstreich, der scheiterte, weil das Volk auf die Straße ging. Chávez dankte es mit Sozialprogrammen. Dies ist eingebrannt ins kollektive Gedächtnis der Venezolaner, welcher Ideologie auch immer sie angehören.
n-tv
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